Krieg reformuliert

Ein Zitat aus einem Buch von Gertrud Wilker

Schriftstellerin Gertrud Wilker, 1924–1984, verbringt den grössten Teil ihres Lebens in Bern. Sie wird konfirmiert, als der Weltkrieg ausbricht, und sie promoviert mit einer Studie über Poesie, als das Wirtschaftswunder blüht. Zwar tritt sie aus der reformierten Kirche aus, aber biblische und religiöse Fragen bleiben ein Grundthema ihrer poetisch gestimmten Existenz.
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Illustration: Jannis Pätzold
Freitag, 09. Juni 2017

Schriftstellerin Gertrud Wilker, 1924–1984, verbringt den grössten Teil ihres Lebens in Bern. Sie wird konfirmiert, als der Weltkrieg ausbricht, und sie promoviert mit einer Studie über Poesie, als das Wirtschaftswunder blüht. Zwar tritt sie aus der reformierten Kirche aus, aber biblische und religiöse Fragen bleiben ein Grundthema ihrer poetisch gestimmten Existenz. Wilker ist Rebellin, Feministin und Melancholikerin. Die lähmende Enge und Lebensfeindlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft lässt sie als Schriftstellerin weit hinter sich. So wie die junge Frau Jota, die Protagonistin ihres gleichnamigen Romans aus dem Jahr 1973:

Wen die Liebe übermütig macht anstatt einschüchtert, und wer Kränkungen schnell vergisst oder sie nicht wahrnimmt, und wer gern Geld ausgibt, obschon er nichts hat für den nächsten Tag, und wer in einem öffentlichen Park ungeniert Blumen pflückt und sich schlafen legt, wo es ihm gefällt, der weiss nicht, wie die Schwermut an uns zehrt, der hat keine schwere Zunge und wird nicht verfinstert, den beneiden wir ein wenig, ein wenig bestaunen wir ihn, und manchmal kommt uns so einer sogar ver-rückt vor, und im stillen hoffen wir, Jota könne uns vielleicht die Schwermut nehmen und uns von ihr befreien.

Reformuliert: Gertrud Wilker beschreibt mit den Augen eines alternden Mannes das unerwartete Aufkreuzen und ebenso plötzliche Verschwinden einer jungen Frau mit dem merkwürdigen Namen Jota. Sie streift durch Bern und tut alles, was Bernerinnen und Berner nicht dürfen oder sich nicht getrauen, was ihr Kodex der Wohlanständigkeit und Biederkeit verbietet, was als Unerlaubtes aber auch ein heimlich Ersehntes ist. Jota geht barfuss und schaut Menschen direkt in die Augen. Jota zieht sich ungeniert zum Duschen aus und hat sonnengebräunte Haut. Sie trägt schmutzige Jeans und singt den Bären im Graben Lieder zur Gitarre. Plötzlich kommt Lust auf in Bern, und mit der ungestillten Lebensfreude spriessen wilde Gerüchte und Verleumdungen. Jota erträgt alles. Sie führt einer ganzen Stadt ein anderes Leben vor, eines, nach dem mancher seine Hand ausstreckt, um sie aber sofort zurückzuziehen, sobald er merkt, wie gefährlich und packend, wie verwandelnd und entführend es werden könnte. Als sie wieder verschwunden ist, heisst es: Nur ein leuchtendes Nachbild ist uns auf der Netzhaut geblieben.

Konkret: Jota kommt und geht wie eine Erscheinung, ist zu Lebzeiten legendär, hat eine Aura. Wie eine Heilige, eine Christusfigur in Gestalt eines wilden Mädchens. Ihr Auftreten zeitigt befreiende, lösende, versöhnende Wirkungen: Liebe wird ohne Hemmung spürbar. Kränkungen werden ohne Nachgeschmack vergessen. Sorgen treten zurück. Leben wird in der Gegenwart gelebt. In ihrer wunderbaren Präsenz kommen Unbefangenheit und Schwerelosigkeit auf. Befreiung wird greifbar, aber auch Angst vor Freiheit. Jota, im griechischen Alphabet der kleinste Buchstabe, steht wie bei Jesus für das merkwürdige Paradox: Nichts verschwindet, aber alles ist erfüllt (Matthäus 5,17–18). Freiheit wäre möglich.

Gertrud Wilker: Jota, in: Beatrice Eichmann-Leutenegger / Charles Linsmayer (Hg.): Elegie auf die Zukunft. Ein Lesebuch. Verlag Huber; Frauenfeld 1990; Seite 1.

Der Theologe und Germanist Matthias Krieg hat bei der Reformierten Kirche Zürich die Stabsstelle Theologie inne. Seine Kolumne Krieg reformuliert handelt von Literatur in reformierter Denktradition.

  • N° 10/2017

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