Linder liest

Dusjas Fleischklopse

Unser Kolumnist hat einen Artikel über das Massenphänomen «Manifesting» gelesen. Doch viel mehr beeindruckte ihn die Begegnung mit einer Hexe.
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Autor: Lukas Linder
Freitag, 09. August 2024

Im Juni 2016 sass ich im Zug nach Warschau neben einer Hexe. Sie hiess Dusja und war auf dem Weg in die Ukraine, um dort ihre Enkelkinder zu besuchen. Dass sie eine Hexe war, erwähnte sie so beiläufig, als wäre das eine Selbstverständlichkeit, und vermutlich war es das für sie auch. Dusja war schon dreimal gestorben. Einmal war sie am Bahnhof die Rolltreppe hinuntergefallen und hatte sich alle Knochen gebrochen. «Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe.» Sonderlich überrascht wirkte sie jedoch nicht.

Ich erzählte ihr sehr viel weniger beiläufig von meiner Arbeit als Schriftsteller, nämlich mit der üblichen Mischung aus Gestammel und Gemurmel, das sich bei mir immer so anhört, als wollte ich mich für meine Berufswahl entschuldigen. Viel mehr interessierte sie sich aber dafür, dass ich keine Freundin hatte. Wie konnte das bloss sein? Ein Blick auf mein Outfit – ungebügeltes Hemd, schreckliche Hose, Schuhe, die von den Füssen einer Moorleiche stammen könnten – war Erklärung genug. Bevor ich ausstieg, versprach Dusja, dass ich bald die Liebe meines Lebens finden würde, und verriet mir zusätzlich das Rezept für ihre Fleischklopse.

Ich bin nicht abergläubisch. Am Freitag dem Dreizehnten verkrieche ich mich nicht unter der Decke, und wenn eine schwarze Katze von links die Strasse überquert, bete ich kein Vaterunser, sondern versuche sie zu streicheln. Hingegen bin ich sehr empfänglich für den egozentrischen Glauben, dass schreckliche Dinge geschehen, weil ich mit von der Partie bin.

Ein Flugzeug stürzt allein aufgrund meiner Anwesenheit ab. Eine Bank wird in dem Moment gesprengt, in dem ich am Automaten eine Fünfzigernote ziehe, und wenn ich mal in den Zoo gehe, kann ich sicher sein, dass dies der Tag ist, da ein Gorilla die Kontrolle über den Käfigschlüssel erlangt. Dass nichts davon bislang passiert ist, beweist mir nicht etwa die Absurdität meiner Befürchtungen. Im Gegenteil. Gerade weil ich das Unglück im Vorfeld heraufbeschwöre, halte ich es von mir fern.

Diese neurotische Schicksalsverhinderung ist das genaue Gegenteil eines Massenphänomens, das sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Es heisst «Manifesting». Thomas Ribi hat neulich in der «NZZ» darüber geschrieben. Im Prinzip bedeutet es einfach, dass man etwas bekommt, wenn man stark genug daran glaubt. In den sozialen Netzwerken berichten unzählige Leute, wie sie endlich ihren Traumpartner, den perfekten Job oder ihr Idealgewicht gefunden haben. Sie haben es manifestiert.

Dabei geht es darum, sich den Wunsch so konkret wie nur möglich vorzustellen, bis man ihn vor sich zu sehen glaubt. Danach kommt die Affirmation. Man wiederholt seinen Wunsch – zum Beispiel «ich werde meinen Sohn endlich im Uno besiegen» – täglich Dutzende Male, um mit seinen positiven Gedanken das Universum gnädig zu stimmen.

Wie Ribi zu Recht schreibt, ist es tatsächlich so, dass Menschen mit einer positiven Einstellung oft mehr erreichen als Pessimisten, da sie sich schlichtweg mehr zutrauen. Interessanter scheint mir jedoch ein anderer Aspekt: Wir haben es beim Manifesting mit einem Aberglauben zu tun, der ohne jede Transzendenz auskommt. Das hier beschworene Universum erinnert eher an eine Trainingsapp auf dem Handy, die mit der eigenen Affirmationstechnik gepusht wird.

Meine Grossmutter, die zu ihren Lebzeiten einen sehr direkten Draht zum Herrgott gepflegt hatte, rief diesen oft bei der Erledigung von Alltagssorgen zu Hilfe: Die Tochter braucht einen Mann; das Enkelkind hat Fieber; die Schnecken fressen den guten Salat weg. Gott war stets zur Stelle. Die Manifester hingegen brauchen seine Hilfe nicht mehr. Indem sie ihre Wunsch-Skills nach und nach verbessern, erreichen sie schliesslich jene Vollkommenheit, die früher für das Göttliche reserviert war.

Ich manifestiere nicht. Vielleicht bin ich einfach zu faul für positive Gedanken. Auch lehrt mich die Erfahrung, dass meist das Gegenteil von dem geschieht, was man sich wünscht. Und manchmal ist es auch ganz erfreulich, wenn einem das Schicksal aus der Hand genommen wird. In dem Notizbuch, das ich damals auf meiner Reise nach Polen dabei hatte, findet sich auf einer Seite das Rezept für Dusjas Fleischklopse. Und gleich darunter: die Handynummer meiner Frau.

  • Bereit für eine Frau

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