Überschätzt – Unterschätzt

Die Liebe

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Freitag, 13. Mai 2022

Egal ob es nun um die zwischenmenschliche oder die göttliche Zuwendung geht – kaum ein Phänomen lässt sich so sehr fehldeuten wie das der Liebe. Wie diese in der Bibel beschrieben wird, übersteigt sie scheinbar das Menschenmögliche: «Die Liebe hat einen langen Atem, gütig ist die Liebe, sie eifert nicht. Die Liebe prahlt nicht, bläht sich nicht auf. Sie ist nicht taktlos, sie sucht nicht das Ihre, lässt sich nicht zum Zorn reizen und rechnet das Böse nicht an …» Und damit nicht genug: «Sie trägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles.»

Diese Stelle aus dem Neuen Testament, bei kirchlichen Trauungen gerne zitiert, gehört neben dem Hohenlied ­Salomos zu den wunderbarsten Stellen über die Liebe in der Bibel. Wer würde den Massstäben des Apostels Paulus, die er im Korintherbrief dargelegt hat, nicht gerne gerecht werden? Nur so einfach ist es eben nicht.

Denn die Liebe, die uns begehren lässt und uns verzehrt, die uns erhöht und erniedrigt, heilt und verletzt, die wir in Schlagern zersingen und verkitschen, ist voller Widersprüche. Wir können einen anderen Menschen lieben und ihn dennoch nicht immer gut behandeln. Andererseits kann eine taktlose Grobheit ein Weckruf sein, der vielleicht ein konstruktives Gespräch nach sich zieht. Die einen versuchen krampfhaft, ihre Liebsten festzuhalten, und verkennen dabei, dass eine Bindung umso haltbarer wird, wenn wir sie loslassen. Andere projizieren bloss den eigenen Narzissmus auf das Objekt der Begierde, um sich in ihm zu spiegeln.

Sind die Menschen demnach für die Liebe gar nicht vorgesehen, und ist diese infolgedessen dem menschlichen Zusammenleben als nie erreichbare Vision entzogen? Nein. Entscheidend ist, dass die Liebe keinen Zweck verfolgt. Sie lässt sich nicht einspannen oder mit Bedingungen versehen. Ihr Wunder besteht darin, dass sie sich ganz unvermutet einfindet, besonders dann, wenn schon niemand mehr mit ihr gerechnet hat. Gerade deshalb hat die Liebe bei so vielen Fallstricken unter uns Menschen eine Chance. Ohne jegliches Kosten-Nutzen-Denken ergibt sich ihr eigentlicher Sinn: Sie ist die Kraft, die zum Guten wendet, was im Argen lag. Sie ist die Zeit, die fortan heilt, was zuvor verwundet zum Himmel schrie. Sie ist der Balsam, mit dem die versehrte Seele tröstend geheilt wird.

BILD: KEYSTONE / INTERFOTO / SAMMLUNG RAU

  • N° 4/2022

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