Überschätzt – Unterschätzt

Die Familie

Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Freitag, 15. Dezember 2023

Wenn die Zeiten stürmischer werden, suchen viele Menschen ihren Flucht- und Ankerpunkt an den Orten, die ihnen seit Kindertagen vertraut sind. Wo man einst Nestwärme erfahren hat, kann man auch überwintern. Für diesen Rückzug ins häusliche Privatleben haben die Sozialpsychologen den Begriff «Cocooning» gefunden, was «sich einspinnen» oder gar «Verpuppung» bedeutet.

Die Blaupause für dieses Phänomen liefert seit Jahrhunderten die Szenerie der Heiligen Familie im Stall von Bethlehem in der Christnacht. In Millionen Weihnachtskrippen wird dieses Bild jedes Jahr aufs neue reproduziert als die holzgeschnitzte Harmonie schlechthin.

Das Eigentümliche daran ist nur: Der erwachsene Jesus hätte diese christliche Ikonografie wohl eher kritisch gesehen. Die leibliche Familie war ihm nämlich alles andere als heilig, dafür gibt es zahlreiche Belege in der Bibel. So findet man etwa bei Matthäus eine Stelle, wonach Jesus gesagt wird, dass seine Geschwister und Maria mit ihm reden wollen. Er lässt sie abblitzen mit den Worten: «Wer sind meine Mutter und wer sind meine Geschwister?»

Jesus hat sich radikal von seinen natürlichen Anverwandten losgesagt. Die biologische Geschlechterfolge musste ausser Kraft gesetzt werden, damit Christus zum Gottessohn werden konnte. Das war ein eminenter Verstoss gegen das mosaische 4. Gebot, wonach man seine Eltern zu ehren hat. Der Heiland zog die Wahlverwandtschaft den Seinen vor: seine Jüngerschaft waren die wahren Brüder, Schwestern.

Viel näher als bei seinen Angehörigen stünde Jesus wohl heute bei jenem queeren jungen Mann, der neulich bei einem von bref mitgetragenen Podium zur Geschlechtsidentität teilnahm. Er erzählte, dass ihm die LGBT-Community zu einer Ersatzfamilie geworden sei. Dort fühle er sich akzeptiert, so wie er ist, dort gehöre er hin.

Nicht viel anders müssen die Jünger argumentiert haben, die Haus und Hof samt Familie für immer verliessen, um Erfüllung und Heil zu finden. Die Zurückgebliebenen mussten damals denken, was für ein Wahnsinn, einem obskuren Wanderprediger, der auch noch viele Feinde hatte, in die Wüste zu folgen. Und doch: Bedenkt man, dass der genetische Zwangsverband mitunter wie eine Festung funktioniert, in welcher der Raum für persönliche Entfaltung knapp bemessen ist, dann ist der Schritt vielleicht gar nicht so erstaunlich.

Die alten Familienbande festzuzurren wie einen Sicherheitsgurt kann ein Weg sein, stürmische Zeiten zu überstehen. Sich einer Gemeinschaft anzuschliessen, in der auch und gerade die Aussenseiter und Geächteten willkommen sind, ein anderer.

  • Zu-ga-be!

    N° 11+12/2023

    CHF17.00 inkl. 2.6% MwSt.
    In den Warenkorb