Überschätzt – Unterschätzt

Die Eitelkeit

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Freitag, 11. Oktober 2024

Wenn wir Menschen tatsächlich das Ebenbild Gottes sind, dann haben wir allen Grund, eitel zu sein – was wir in sieben Tagen alles hinkriegen! Könnte es sogar sein, dass wir Gott geschaffen haben, damit er uns zu seinen Geschöpfen macht? Die Inquisitoren des Mittelalters hätten bei so viel Hochmut eilends das Holz für den Scheiterhaufen bestellt. Denn dieser, so hätten sie argumentiert, sei genau das Ketzerische, das die teuflische Schlange mit dem Sündenfall bezweckt habe: Eitelkeit ist eine Ausgeburt des freien Geistes, wenn auch keine besonders schöne.

Mit der Selbsterkenntnis kam nicht nur die Scham über die Menschen, sondern auch ihr Pendant, die Eitelkeit. Hindert uns die eine daran, Grenzen zu überschreiten, verlockt uns die andere, Grenzen auszutesten. Eitelkeit mag eine etwas überzogene Form von Selbstbestätigung sein. In jedem Fall ist es aber für die Selbstvergewisserung unabdingbar, ein Bild von sich zu entwerfen, das ideal ausfällt. Das und nichts anderes meint das Wort Einbildung.

«Wie kann ein Mensch sich bilden, der nicht eitel ist?», fragt Goethe in seinen «Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren». Und in den Fragmenten zum Faust legt er nach: «Ein Kerl, der nicht ein wenig eitel ist / Der mag sich auf der Stelle hängen.»

Aber hier geht es nicht um die Kerle. In den allegorischen Darstellungen, welche die «Todsünde der Eitelkeit» über die Jahrhunderte kennzeichnen, sieht man meist eine hoffärtige junge Frau, die in einen Spiegel blickt und sich an ihrer Schönheit weidet. Doch der Verdacht, dass sich eitle Menschen nur um sich selbst drehen, stimmt nicht.

Wir sind so eitel, dass uns sogar an der Meinung von Leuten, an denen uns nichts liegt, etwas gelegen ist. In Zeiten von Selfies werden Selbstbildnisse nicht mehr nur in der eigenen Fotodatei aufbewahrt, sondern in den sozialen Netzwerken gepostet. Diese Geltungssucht hat auch eine tragische Seite: Wer nicht von Followern bestätigt wird, fühlt sich so konturlos wie ein Geist. So betrachtet wäre die exhibitionistische Selbstpräsentation auf Tiktok, Instagram oder Facebook Ausdruck einer immensen existenziellen Verunsicherung.

Wir wissen nichts über Gott, können aber davon ausgehen, dass er kein Narzisst ist. Würde er diese zutiefst menschliche Regung verdammen? Während die Katholiken – sichtbar am Barock und an dem Rokoko – mit Prunk und Ornamentik sich selbst in Gott feiern, halten die Puritaner die Eitelkeit für Teufelszeug. Aber man kann sich auch auf seine Bescheidenheit etwas einbilden. Hinter manchen zur Schau getragenen Leiden steckt oftmals nichts als Hochmut. Dann doch lieber das Original.

  • Oh My God

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