Die moderne Medizin kann ein Virus vernichten, nicht aber uns Menschen die Angst vor dem Tod nehmen. Linderung verspricht da nur der süsse Schwindel der Religion, schreibt Sibylle Lewitscharoff.
Kaum ist ein empfindlicher Störfaktor in der Welt, einer wie die derzeitige Ansteckungsgefahr mit einer neu auf den Plan getretenen Krankheit, von der noch nicht abzusehen ist, wie rasch sie sich verbreiten und wie viele Opfer sie womöglich fordern wird, steht die halbe Welt Kopf. Nicht in den Regionen, in denen es bitterarm zugeht. Deren Probleme sind so gross, dass das Coronavirus wie ein winziges Katastrophenhütchen auf der Agenda der Schrecken allenfalls obenauf zu sitzen kommt.
Aber hierzulande, wo bisher verschwindend wenig Fälle von Infizierten bemerklich wurden und nur wenige der Patienten gestorben sind, machen sich einige Menschen bereits Sorgen, ob sie sich ein Vorratslager anschaffen sollen, falls sie nicht mehr aus dem Haus dürfen. Sie sagen Restaurantbesuche ab, einige haben urplötzlich sehr viel zu tun, wenn es um Verabredungen geht, die schon vor Wochen getroffen wurden, und sehen sich deshalb ausserstande, diese einzuhalten. Es sind nicht viele Menschen, die sich so benehmen, aber es gibt sie.
Nun, ich weiss natürlich auch nicht, wie ich reagieren werde, falls es sich in nächster Zeit herausstellen sollte, dass die Krankheit tatsächlich eine radikale Gefahr für sehr viele Menschen darstellt. Allgemein lässt sich sagen, dass der Tod in unseren modernen Gesellschaften ein merkwürdiges – fast hätte ich geschrieben – Leben fristet, obwohl zunächst das Wort Dasein in meinem Kopf herumgeisterte. Der Tod war natürlich schon immer der grosse angsterregende Unbekannte, und nur die Tollkühnen forderten ihn heraus oder trugen eine Abgebrühtheit zur Schau, die oft ein bisschen wirkte, als sei sie dem Schmierentheater entliehen. Heute ist alles anders. Die grossen Toderklärer, die versuchen, die Angst vor ihm zu mindern und dem Unheimlichen mit einer gewissen Logik zu begegnen, sind natürlich die Religionen. In frühen christlichen Zeiten wurden die Bösen verwarnt und schon zu Lebzeiten in der künftigen Hölle verortet, die Guten hingegen getröstet, sanft ermahnt und ihnen das Himmelreich versprochen.
Tempi passati. Der Schutz bröckelt. Die Heilsversprechen, die in den Kirchen gegeben werden, klingen lahm, der Schrecken des Todes wird nicht mit gebotener Strenge aufs Korn genommen. Denn nur dann lässt sich der Versuch wagen, ihn zu lindern. Was zugegebenermassen schwierig ist, weil wir die vor langer Zeit streng gegliederten und verorteten Sphären, die die Wohnstätten der Toten bildeten, im Weltall partout nicht finden können. Schwierig, schwierig, alles schwierig.
Es wundert mich nicht, dass in den Predigten vom Totenreich nur in sehr entlegener, wenn nicht verwaschener Form die Rede geht. Man kann den Ort ja leider nicht mehr präzisieren wie einst das Himmlische Jerusalem, diesen Schweb-Ort von intrikater Schönheit, ein sagenhaftes Schmuckgebilde mit einer Vielzahl an Edelsteinen, eingelassen in seine Mauern und die vier Tore. (Die Protestanten hatten da ohnehin immer schon das Nachsehen, denn die Katholiken behaupteten einst steif und fest, das Himmlische Jerusalem schwebe exakt über Rom, genauer noch: über dem Vatikan.)
Aber wäre es nicht besser, wir würden wider die sich ehern gebende Vernunft, die uns einhämmern will, tot ist tot und sonst nix, zu neuen Schmuckgebilden greifen, die in einer dezent poetisierenden Leichtigkeit siedeln, die man nicht auf den Prüfsteinen testen muss, welche die Max-Planck-Institute für ihre neuen Kameraoptiken erfunden haben? Ich gebe zu, das ist nicht einfach, denn der süsse Schwindel will gekonnt sein. Wenn wir uns jedoch ausschliesslich den Kalamitäten widmen, mit denen uns die Erde schreckt, seien es Seuchen oder andere Verheerungen, haben wir verloren.