In einer Synagoge ruft der Oberrabbiner lauthals zu Gott: «Ich bin ein Nichts vor dir, ein Weniger als ein Nichts!» Aus der hintersten Reihe ist die Stimme eines Schnorrers zu hören: «Ich bin ein noch viel grösseres Nichts, mehr noch, das Nichts von einem Nichts!» Der Rabbi dreht sich um und sagt: «Schaut euch an, wer sich heute alles anmasst, ein Nichts zu sein.»
Mit der Demut läuft es nicht anders. Vor zwanzig Jahren begannen Unternehmen, ihre Leitbilder mit dem Begriff zu schmücken. Ein neuer Management-Trend setzte ein, der im Überbietungswettbewerb gipfelte, wer denn nun am besten das eigene Licht unter den Scheffel stellen kann. Das Mantra «You’re simply the best, better than all the rest» hatte ausgedient. Nach einer Ära der Profitmaximierung waren nun Mindfulness, Selfcare und Downsizing gefragt.
Ursprünglich regelte die Demut die Beziehung zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen. Sie gründete darauf, dass Gott, der uns als sein Ebenbild erschaffen hat, am Ende halt doch eine unerreichbare Instanz bleibt, die nur Anbetung verdient. Später packte der katholische Klerus auf die bereits vorhandene Demut seiner Gläubigen einfach noch eine Portion Angst obendrauf und sicherte sich so deren Unterwürfigkeit. Luther und die Reformatoren gingen da schon etwas subtiler ans Werk: Sie etablierten den Terror des schlechten Gewissens, dem die Gläubigen nur durch korrekte Lebensführung und Nonstop-Busse vor Gott entrinnen konnten. Noch heute zeugt das Wort Demütigung davon: In ihm tritt die Demut in der Rolle des Unterdrückers hervor.
Damals wie heute gilt: Die Demut lässt sich nur retten, wenn man sie allein mit sich ausmacht. Sie erfordert Durchhaltevermögen. Denn wer wirklich demütig ist, der muss es aushalten, als schwach wahrgenommen zu werden. Noch nie wurde jemandem eine Medaille um den Hals gehängt, weil er sich zurückgenommen hat. Die Demut, das ist die nachhaltige Gesundschrumpfung der Seele. Sie ist keine Sprinterin mit Bestzeit, sondern eine Langstreckenläuferin, die es nie aufs Podest schaffen wird. Wer aber über sie verfügt, der schreitet – geschützt vor Hochmut und Selbstüberschätzung – mit dem Hauptpreis durchs Leben.
Nun ist es leider so, dass wir Menschen darin Anfänger sind. Die jüdische Weisheit «Mach dich nicht so klein, du bist nicht so gross!» muss deshalb auf jedem Langstrecken-Trainingsplan stehen.
BILD: ARCHIV/ZVG