Corona zieht Wände zwischen uns Menschen, physische und mentale. Berührungslos leben wir nun aneinander vorbei, schreibt Nora Gomringer.
Kein einziges Mal, seit Corona den Erdball beutelt, hat es mich in eine Kirche gezogen. Das stimmt nicht ganz. Jedes Mal, wenn ich in Bamberg an St. Martin vorbeilaufe, sehe ich mich vor meinem inneren Auge kurz eintreten und in der ruhigen, hellen Kirche Platz nehmen. De facto gehe ich weiter und denke: Bald! Corona sorgt bei mir für viele Male «bald». Ich schiebe auf und verdränge, pausiere und nehme in Schutz, werde sanft und ganz weich – im wahrsten Sinne, denn: ich nehme zu.
Für meine Verhältnisse drahtig kam ich aus dem Herbst in den Winter, kam aus den USA als tägliche Läuferin mit Ohio-durchpustetem, neuem Erfahrungsschatz nach Deutschland zurück, wo ich dann, wie natürlich alle, nach drei Monaten von Corona «überfallen» wurde. Der Einschnitt in Arbeit und Sein, in Sinn und Haben hat mich getroffen und irgendwie erlahmen lassen, in Prä-Corona war ich oft erschöpft vom Zuviel an Bewegung und Reisetätigkeit, geistiger wie körperlicher. In diesen Corona-Tagen ist es das Weniger, das mich müde und ratlos macht. Und während die ganze Welt sich schon wieder locker macht, fällt mir das schwer.
Zu Beginn der Krise habe ich aus reinem Eskapismus nur Kochsendungen auf Netflix angesehen, dann habe ich gegärtnert, dann viel geschlafen. Es hat mich zu Stoffen wie Camus’ «Die Pest» hingezogen, zum «Decamerone» von Boccaccio, und schliesslich habe ich noch einmal die Verfilmung von Marlen Haushofers Klassiker «Die Wand» von Julian Roman Pölsler aus dem Jahr 2012 angesehen. Als ich den Film im Jahr seines Erscheinens sah, war ich angerührt, aber nicht annähernd so berührt von Martina Gedecks Spiel wie gestern, als ich ihn mit meinem Freund angesehen habe.
Die tiefe Einsamkeit und die Aufgabe des Menschlichen in einer von Nöten, Zwängen und Unsicherheiten geformten Welt, die noch dazu kein Entkommen zulässt ausser den Tod, ist erschütternd. Das ist allerdings auch keine allzu ferne Dystopie, ergeht es doch unendlich vielen Menschen so, dass sie sich der Welt ausgeliefert sehen, statt sich in sie aktiv und aktivierend eingesetzt zu finden. Wände gibt es schliesslich überall und unsichtbar sind die meisten, an die wir stossen. Martina Gedeck spielt die Phasen der Realisierung so still und ernst und echt, dass ich ihr Gesicht mit in den Traum in der Nacht genommen habe.
Ein leeres Gesicht mit traurigen Augen. Manches an Haushofers Text wirkt aber nicht mehr zeitgemäss. Hat sich doch die österreichische Schriftstellerin mit Jahrgang 1920 den Menschen des 21. Jahrhunderts, seine Medien und sein Spiel-, Zeige- und Schaubedürfnis nicht ausmalen können. Und so sind eine Instagramerin auf Self-and-Other-Enhancement-Mission oder ein Influencer unvorstellbare Wesen in einem Szenario, wie es «Die Wand» bietet. Wer könnte noch ohne ein entsprechendes Youtube-Tutorial eine Sense schwingen, oder wer verstünde noch, zu säen, zu ernten und eine Kuh von ihrem Kalb zu entbinden?
Interessant fand ich, dass Gott zumindest im Filmscript von «Die Wand» keine Rolle spielt. Die Frau hadert mit dem schopenhauerschen In-die-Welt-geworfen-Sein, sie klagt aber keinen Schöpfer an. Frau, Hund, Kuh, Katze, Haus, Alp, Wald, Wand sind die Konstanten eines schlagartig vereinfachten und vereinsamten Lebens. Und da haben wir es: Corona setzt zwischen mich und den Nächsten eine Wand.
Bei Marlen Haushofer sind alle ausserhalb der beschriebenen Wand wie in Zeit erstarrt, rühren sich nicht mehr und sind letztlich für die Frau und ihr Fortleben ohne Bedeutung. Im Gegensatz dazu sorgt die Corona-Wand dafür, dass ich und der andere weiterleben, aber berührungslos, als Parallelen durch die Zeit gehend. Zu meinem Glauben gehört das Berühren nicht unbedingt, zu meinem Leben durchaus. Noch eile ich an diesen Fragen und dieser Sehnsucht vorüber und sage mir: Bald!