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Autorin: Rebekka Haefeli
Freitag, 21. Juni 2024

Herr Schlieter, wie kamen Sie darauf, Rausch und Religion zu erforschen?

Ich bin auf das Thema gestossen, als ich mich mit Nahtoderfahrungen befasste. In Berichten darüber ist häufig die Rede von tiefen Einsichten in die grossen Fragen des Lebens. Die Todesnähe eröffnet vielen Menschen offenbar einen ganz anderen Blick auf die Wirklichkeit, der oft eine Neuorientierung zur Folge hat.

Manche Menschen werden religiös, wenn sie schwerkrank sind. Sehen Sie da eine Verbindung?

Man kann sicher feststellen, dass das Wissen um den nahenden Tod eine sehr starke Kraft hat. Das Wissen um das Weiterleben bei einer Nahtoderfahrung kann aber genauso eine Transformation bewirken. Darin scheint es Gemeinsamkeiten mit Rauschzuständen zu geben, in denen Menschen den Eindruck gewinnen, dass sich ihnen neue Perspektiven eröffnen. Sie erfahren eine Bewusstseinserweiterung, die über das Alltägliche hinausgeht, die sie tief beeindruckt und im Innersten berührt. Diese Beschreibungen kennt man auch aus dem religiösen Kontext.

Kann das eine beängstigende Erfahrung sein?

Ja. Hochpotente Rauschmittel können bewirken, dass man meint, sich aufzulösen, und seine eigene Existenz ausgelöscht sieht. Albert Hofmann, der Schweizer Chemiker und Entdecker von LSD, beschrieb seine erste Erfahrung mit der Droge als extrem angsteinflössend. Er meinte, zwischen Leben und Tod zu schweben. Rauscherlebnisse können im Extremfall auch Nahtoderfahrungen oder Horrortrips sein. Nichts, wonach sich die meisten Menschen sehnen.

Jens Schlieter, 1966 in Feldafing/Starnberg (D) geboren, ist Professor und Direktor des Instituts für Religionswissenschaft der Universität Bern. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind die Ideengeschichte des Buddhismus, die theoretische bzw. systematische Religionswissenschaft, Bioethik der Religionen sowie die Bedeutung von ausseralltäglichen Erfahrungen in Religion und Philosophie.

Schlieter studierte Philosophie, Tibetologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität Bonn sowie der Universität Wien. Sein Buch «What is it like to be dead?», eine Studie über Berichte zu Nahtoderfahrungen, erschien 2018.

Würden Sie sich selber als religiös bezeichnen?

Ich würde mich als philosophisch interessiert und nicht als religiös im eigentlichen Sinne bezeichnen. Fragen, die das grosse Ganze und dessen Sinn betreffen, werden in den religiösen Traditionen genauso gestellt wie in der Philosophie. Es geht immer um den Menschen, die Welt und den Kosmos. Diese grossen Fragen haben mich schon früh fasziniert. Meine Eltern waren beide Mediziner. Philosophische Fragen hat mir vor allem auch mein Grossvater nähergebracht: Als ich 16 war, drückte er mir Nietzsches Buch «Also sprach Zarathustra» in die Hand und sagte: «Nächste Woche hast du das gelesen, dann reden wir darüber.» Später dann habe ich mich intensiv mit dem Buddhismus befasst.

Sind Sie Buddhist?

Nein, aber ich habe Klöster aufgesucht und buddhistische Gelehrte zu ethischen Fragen interviewt, in Indien, Sri Lanka, Thailand und in westlichen Ländern. Ich habe Philosophie, Religionswissenschaft und Buddhismuskunde studiert. Meine Eltern hätten gern gewollt, dass ich Medizin studiere, doch sie haben meine Wahl akzeptiert.

Haben Sie selber schon religiöse, rauschhafte Erfahrungen gemacht, oder hatten Sie eine Nahtoderfahrung?

In Todesnähe war ich glücklicherweise noch nie. Für mich persönlich ist das Hören von Musik sehr intensiv und gibt mir in mancher Hinsicht einen tiefen Einblick. Aber nie so, dass ich transformatorische Erfahrungen gemacht hätte, dass mein Leben also von einem Augenblick auf den anderen ganz anders weitergegangen wäre. Ich forsche mit Hilfe von Berichten über solche Erfahrungen. Ich möchte wissen: Wann haben Menschen das Bedürfnis entwickelt, einen ganz neuen Blick auf die Wirklichkeit zu werfen und das Bewusstsein zu erweitern? Wann haben sie die Alltagswelt mit ihren Gegebenheiten und Problemen als einengend empfunden? Die Vorstellung, dass es eine wahre Wirklichkeit gibt, die sich erst in Rauscherfahrungen eröffnet, ist in Europa noch gar nicht so alt.

«Unter Künstlern in Frankreich war es gang und gäbe, Laudanum zu nehmen, um die eigene Kreativität zu steigern.»

Was wissen Sie darüber?

Im Mittelalter und bis zur frühen Neuzeit waren Rauschzustände in Europa Gemeinschaftsereignisse in Schenken und auf Festen. Bei Einzelnen galt Alkohol als enthemmend und war als Sucht verpönt. Hexensalben oder andere Substanzen wurden in die Nähe nicht-christlicher, dämonischer Bereiche gerückt. Erst mit der Aufklärung und dem Beginn der Naturwissenschaften wandte man sich diesen Themen mit anderen Gedanken zu. Vor allem die Dichter und Philosophen der Romantik entwickelten die Sehnsucht nach einer Begegnung mit der Natur oder einer Verbindung, die etwas Traumhaftes hat, die Zugänge zu verborgenen Möglichkeiten, zu Unbewusstem und dem eigenen Unterbewusstsein schafft.

Nahm man zu diesem Zweck bereits Rauschmittel?

Um 1800 begannen die Debatten um Rauschmittel, etwa um Opium, das mit Alkohol gemischt und als Laudanum-Tinktur getrunken wurde. Beispielsweise war es in Frankreich unter Künstlerinnen und Künstlern gang und gäbe, Laudanum zu nehmen, um die Begegnung mit der Welt zu intensivieren und die eigene Kreativität zu steigern. Da gab es dann auch die berühmten Haschischsalons, aber diese Rauschmittel waren noch nicht so potent wie die Psychedelika, die später in einer breiteren Gesellschaft bekannt wurden, wie etwa Mescalin, psilocybinhaltige Pilze oder LSD.

Spielten sich diese Experimente nur in der Welt der Künstlerinnen und Künstler ab?

Nein, es waren beispielsweise auch Spiritisten und Okkultisten des 19. Jahrhunderts, die mit sich selbst, mit dem eigenen Geist oder einem Medium experimentierten. Medien waren vor allem Frauen, die mit Rauschmitteln wie Haschisch in schlafähnliche, hypnotische Zustände versetzt wurden.

Was erlebten sie dabei?

Diese Medien sagten, sie hätten aus ihrem Körper heraustreten können, auf sich selbst hinunterschauen und so etwas wie eine Gewissheit erfahren, dass das Leben und der Tod vielleicht nur relative Grössen sind. Hier sieht man die Verbindung zu Nahtoderfahrungen, wo ebenfalls von Ausserkörperlichkeits-Erlebnissen berichtet wird. Die bewusste Suche nach ekstatischen Zuständen mit Rauschmitteln hat wiederum Ähnlichkeiten mit religiös-ekstatischen Erfahrungen.

Welche Haltung hatte das Christentum gegenüber diesen Bewegungen?

Rauschmittel selbst wurden in der christlichen Tradition abgelehnt. Alkohol – also Wein – wurde zwar rituell verwendet, Rausch war aber negativ belegt und wurde skeptisch betrachtet. Es gab nicht die Idee, mit Alkohol eine besondere Beziehung zu Gott herzustellen oder tiefer in die Wirklichkeit oder sich selbst hineinschauen zu können. Allerdings bewunderten schon früh viele Menschen die tiefen religiösen Erfahrungen, die Mönche in Klöstern machten.

Das heisst, in religiösen Zuständen ist dieselbe Bewusstseinserweiterung erreichbar wie mit Rauschmitteln?

Das enthaltsame Leben im Kloster, die Hinwendung zu Gott und zum Gebet in einem entbehrungsvollen Lebensalltag kann anscheinend zu ähnlich ekstatischen Zuständen führen, die das Bewusstsein erweitern. Mit Rauschmitteln scheint es einen einfacheren, abgekürzten Weg zu geben. Über Parallelen zwischen religiösen Erfahrungen und Rauschzuständen berichteten auch Forscher, die mit Psychedelika experimentierten.

«In der Schweiz gab es mal ‹Die Kirche der Heiligen Pilze›. Das war ein Versuch, den kollektiven Rausch­mittelkonsum zur Religion zu erklären.»

Wer zum Beispiel?

Zwei wichtige Forscher sind die beiden Amerikaner Timothy Leary und John Lilly, die 1920 beziehungsweise 1915 zur Welt kamen und aus katholischen Familien stammten. Sie waren beide sehr stark religiös sozialisiert. Lilly beschreibt in seiner Autobiografie, wie er nach dem Einnehmen von LSD sich selber als Kind auf den Knien zu Gott beten sah. Er nahm sich sozusagen enthoben und entrückt in engelhaften Welten wahr und begegnete dort allen möglichen Heilsgestalten. Lilly sagte, er habe eigentlich nur das wiedererlebt, was er als Kind erfahren habe. Dann aber wurde er Naturwissenschaftler und distanzierte sich von seiner religiös geprägten Jugend. Erst durch die Rauscherfahrung erhielt er wieder Zugang dazu. Solche Berichte gibt es viele.

Welche Bedeutung haben persönliche Erlebnisse wie diese für das Fortbestehen von Religionen?

Erfahrungen, die im Herzen gemacht werden, sind wichtig für religiöse Traditionen, um dem Glauben seinen Boden zu geben. Menschen, die knapp einen Unfall überlebt haben, berichten, sie hätten die Liebe Gottes erfahren. Im Augenblick der grössten Gefahr sei ihnen eine schützende Hand gereicht worden. Viele leben weiter mit der Gewissheit, dass sie mehr sind als dieser Körper, weil sie daraus herausgetreten sind. Sie glauben fortan an die Existenz eines Bewusstseins ausserhalb des Körpers. In der buddhistischen Tradition wiederum hat man einen ganz anderen Zugang dazu.

Welchen?

Man geht nicht von der Persönlichkeit als fixer Grösse aus. Im Buddhismus gibt es verschiedene Faktoren, die den Menschen ausmachen, die aber nur lose miteinander verbunden sind: das Unbewusste, die Emotionen, der physische Körper sowie Prozesse des Bewusstseins.

Die Idee, sich mit LSD von seinem alltäglichen Bewusstsein zu lösen, wird heute in der Schweiz sogar offiziell erforscht. Was halten Sie davon?

Die Forschung zum Einsatz von LSD oder Psilocybin im psychotherapeutischen Setting scheint mir vielversprechend zu sein. Medizinerinnen und Therapeuten berichten, dass es beispielsweise möglich sei, frühkindliche Traumatisierungen wie von aussen zu betrachten und zu bearbeiten, ohne die dazugehörigen Emotionen erneut erleben zu müssen. Hier scheinen sich neue Wege zu eröffnen, die natürlich nur im streng kontrollierten, individuell abgestimmten Setting erforscht werden dürfen. Da fällt mir ein: In der Schweiz gab es mal «Die Kirche der Heiligen Pilze». Das war ein Versuch, den kollektiven Rauschmittelkonsum zur Religion zu erklären …

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2006 gründete ein selbsternannter Pastor die «Sacred Mushroom Church of Switzerland». Der Pastor liess seiner gläubigen Gemeinde als Sakrament psychedelische Pilze zukommen, die auch gemeinschaftlich konsumiert wurden. Die «Kirche der heiligen Pilze» wurde aber verboten, nachdem man dem Gründer auf die Schliche gekommen war.

Wie denn?

Der Pastor versandte die Pilze auch auf dem Postweg, worauf die Drogenfahndung aufmerksam wurde, die das Ganze stoppte. In den USA dagegen gibt es bis heute einige indigene Gemeinschaften, denen der kollektive Rausch offiziell erlaubt ist. Sie argumentieren erfolgreich, der Konsum der ansonsten illegalen Substanzen habe in ihren Kreisen eine traditionelle Bedeutung. Und in Lateinamerika gibt es Kulturen, die psychedelisch wirkende Substanzen aus der Natur seit Jahrhunderten in traditionellen religiösen Zeremonien anwenden.

Titelbild: Alamy Stock Foto