Als Regula Zeller nach Basel zog, räumte sie ihr Schliessfach in Bern, packte ihre Ware in Güselsäcke und kaufte sich eine Matratze. Wir sitzen am kleinen Esstisch ihrer neuen Wohnung, während sie erzählt, wie das ist, ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben, nach all den Jahren. Bis vor kurzem hatte sie in Bern als Obdachlose auf der Strasse gelebt und auf Bänken, in Pärken oder Unterführungen geschlafen, jeden Tag an einem anderen Ort.
Zeller ist 68 Jahre alt, trägt Brille, einen rosa Strickpullover, Jeans und Sportschuhe. «Auf der Matratze zu schlafen, in den eigenen vier Wänden, das fühlte sich natürlich erst einmal an wie das Paradies», sagt sie, schiebt dann aber schnell nach: «Euphorisch bin ich deswegen nicht.» Sie fühle sich innerlich zerrissen, spüre immer wieder den Impuls, alles hinter sich zu lassen und auf die Strasse zurückzukehren. So wie sie es bereits einmal getan hat: Ein erster Versuch mit einer eigenen Wohnung in Basel war gescheitert. Nach sieben Monaten hatte sie das Wichtigste in ihren Rucksack gepackt und war quasi über Nacht verschwunden. Das Leben auf der Strasse in Bern fühlte sich für sie sicherer, besser an.
Nun sitzt sie da und versucht, mir diese Ambivalenz zu erklären, und es scheint, als tue sie das auch für sich selbst. «Es ist seltsam, was in dir abgeht, wenn du lange auf der Strasse gelebt hast», sagt sie und lacht laut auf. Einerseits leben ihre Freunde nach wie vor in Bern auf der Strasse, sie besucht sie regelmässig. In Basel hingegen kennt sie niemanden, zu alten Freunden und der Familie hat sie schon lange keinen Kontakt mehr. Andererseits ist da dieses seltsame Gefühl der Abhängigkeit, das sie seit ihrem Umzug in die eigene Wohnung hin und wieder spürt. «Ich fühle mich wie ein Tier im Zoo. Im Käfig ist es schön behaglich, aber eigentlich will ich in Freiheit sein.»
Stets in Eile
Zeller lebt von einer AHV-Rente sowie Ergänzungsleistungen. Ihre neue Wohnung liegt in einem grossen Betonbau am westlichen Stadtrand Basels. Unten im Haus ist eine Kindertagesstätte eingemietet, in den oberen Stockwerken befinden sich Geschäftsräume, Arztpraxen und Sozialwohnungen. Sie lebt in einem Studio mit zwei Zimmern, einem kleinen Bad und einer Küchennische mit zwei Herdplatten. Nur der eigene Balkon fehle, sagt sie. Wobei das auch sein Gutes habe, sie sei von 40 Zigaretten pro Tag auf 10 runter.
Die kleine Wohnung hat Zeller hübsch gestaltet. Pflanzen, Fasnachtsfiguren und Plüschtiere dekorieren das Wohnzimmer. Die Matratze, mit der sie hierhergekommen ist, dient nun als Sofa – wegen Rückenschmerzen hat sie sich ein richtiges Bett zugetan. Im Bücherregal stehen Romane von Autoren wie Hansjörg Schneider, Adelheid Duvanel oder Kurt Marti sowie Sachbücher über Ostafrika, die Alpenflora und das Stricken von Pullovern. Sie habe all diese Dinge irgendwo aufgelesen, in Bücherkästen oder am Strassenrand, wie sie sagt. «Die Strasse ist ein Brockenhaus.»
Dass Zeller nicht mehr obdachlos ist, hat mit einigen Zufällen zu tun und mit einer neuen Strategie, wie mit Obdachlosen umgegangen werden kann – «Housing First». Die Idee dahinter: Wer obdachlos ist, soll zuerst eine Wohnung erhalten, ehe er oder sie sich um die anderen Probleme kümmern kann. Das in anderen Ländern erfolgreiche Konzept wird hierzulande derzeit von verschiedenen Kantonen geprüft. Am weitesten ist Basel-Stadt, wo die Heilsarmee für ein fortgeschrittenes Pilotprojekt zuständig ist. Regula Zeller ist eine der Teilnehmerinnen.
In der Schweiz sind rund 2200 Menschen obdachlos. Weitere 8000 sind von Wohnungsnot bedroht. Das zeigt eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz aus dem Jahr 2022. Eine neue Strategie soll dazu beitragen, diese Zahl zu reduzieren: «Housing First». Gemäss dem Hamburger Dominik Bloh, der ein Buch über seine Zeit auf der Strasse schrieb, hat dieses Konzept das Potenzial, die Obdachlosigkeit in Europa zu beenden. Dieses ambitionierte Ziel hat sich die EU bis 2030 gesteckt.
Die Idee dahinter: Wer an dem Programm teilnimmt, bekommt eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag — und zwar bedingungslos, ohne sich dafür wie bisher üblich qualifizieren zu müssen. Vor allem in der Anfangszeit werden die Bewohnerinnen durch Sozialarbeitende betreut. Damit soll der Teufels- kreis «Keine Arbeit, keine Wohnung» durchbrochen werden. Denn wer sich nicht mehr täglich um einen Schlafplatz sorgen muss, hat Zeit, sich um seine anderen Probleme wie Sucht, Gesundheit oder Finanzen zu kümmern. In Finnland ist «Housing First» die offizielle Strategie gegen Obdachlosigkeit. Als einziges europäisches Land konnte Finnland damit die Obdachlosigkeit reduzieren.
Um mehr darüber zu erfahren, wie sie ihre Zeit auf der Strasse erlebt hat, verabreden wir uns anderntags zu einem Spaziergang durch Basel. Ausserdem möchte ich wissen, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass eine Frau wie sie, weder süchtig noch auf andere Art sichtbar auf Abwegen, in die Obdachlosigkeit abrutschen konnte.
Es ist ein kalter, windiger Frühlingstag, Zeller trägt eine grüne Boxerjacke, darüber ein schwarzes Gilet sowie Jeans, einen militärgrünen Sonnenhut und Sportschuhe – Kleider, mit denen sie auch auf der Strasse überlebte. Einzig den Rucksack hat sie durch eine Umhängetasche ersetzt.
Vom Spalentor gehen wir zuerst zum Botanischen Garten, dann zum Petersplatz, an der St.-Peter-Kirche vorbei, schliesslich die Altstadt hinunter. Es ist ein Weg, den sie schon Hunderte Male gegangen sei, wie sie sagt. Manchmal mit Musik im Ohr, manchmal hat sie ein Buch dabei, das sie auf einer Bank unter den Bäumen am Petersplatz liest. Zeller läuft noch heute regelmässig stundenlang durch die Stadt, sie packt dann einen Stadtplan in ihre Tasche und geht dorthin, wo ihre Beine sie hintragen.
Das viele Laufen hat sie sich von ihrer Zeit auf der Strasse bewahrt. «Als Obdachlose bist du den ganzen Tag in der Stadt unterwegs. Zum Duschen, Waschen, für die nächste Mahlzeit, um Dinge aus dem Schliessfach bei der Obdachlosenstelle zu holen oder um das Handy zu laden.» Ruhelos, immer in Eile. Zeit zum Flanieren, die hat sie erst heute. Auf ihren Spaziergängen fotografiert sie mit ihrem Handy häufig Blumen.
Überfallen und bestohlen
Unterwegs erzählt Zeller von den schlimmsten und den schönsten Episoden ihres Lebens auf der Strasse in Bern. Sie schildert, wie sie eines Nachts von Jungen angegriffen wurde, als sie auf einem Bänkli unterhalb des Erlacherhofs schlief. «Ich war im Schlafsack gefangen, als sie mit den Fäusten auf mich einprügelten.» Sie reagierte, wie es ihr erfahrene Obdachlose geraten hatten: Sie blieb trotz dem Schock und der Angst, die in ihr aufstieg, ruhig. «Ich machte ganz langsam meinen Schlafsack auf und spazierte ohne etwas zu sagen davon», erzählt sie. «Ich glaube, das hat sie irritiert.» Erst als die Jugendlichen ausser Sichtweite waren, fing sie an zu rennen.
Sie erzählt auch, wie ihr an einem Abend an einer Bushaltestelle der Rucksack geklaut wurde mit all ihren Dokumenten. Damals verlor sie ihr Tagebuch sowie die letzten fünf Fotos ihrer Familie. Ich erfahre aber auch von Dingen, an die sie sich gerne erinnert: an Nächte, in denen sie bei Freunden oder in der Notschlafstelle unterkam, von der Abessinierkatze, die wiederholt zu ihr in den Schlafsack schlüpfte, als sie auf der Münstertreppe übernachtete. Und vom Winter, den sie in einem Atelier verbringen durfte, weil die Frau, der das Geschäft gehörte, sie zu einem Kaffee eingeladen und ihr schliesslich den Schlüssel anvertraut hatte.
Zeller verhält sich nicht so, wie ich das von einer ehemaligen Obdachlosen erwartet hatte. Ich vermutete, dass das Leben auf der Strasse abhärtet, dass es eine Art emotionalen Schutzschild produziert oder zumindest misstrauisch macht. Doch Zeller ist geradezu sanft, hört aufmerksam zu, beantwortet auch persönliche Fragen in aller Ruhe, sie reflektiert ihr eigenes Handeln und ist auch mal selbstironisch – etwa, als sie ihre überstürzte Flucht zurück nach Bern als «seltsamen» Akt bezeichnet und dabei laut lachen muss.
Als ich sie später beim Warten an einer Tramhaltestelle auf diese für mich überraschende innerliche Ruhe anspreche, führt sie dies auf ihre jahrelangen Therapiestunden bei Psychologinnen zurück, die sie bereits vor ihrer Zeit als Obdachlose begonnen hatte. Doch vielleicht, so denke ich mittlerweile, ist auch einfach nur das Bild falsch, das in der Gesellschaft von Obdachlosen gezeichnet wird.
Vielleicht würden manche von ihnen ihre Geschichte gerne erzählen wollen. Doch wer verlangsamt schon seinen Schritt, wenn er Obdachlose sieht, nimmt sich die Zeit, spricht mit ihnen, wirft nicht alle in denselben Topf? «Für die meisten bist du nicht viel mehr als Dreck, der weg muss», sagt Zeller einmal, und es hallt wegen ihrer sonst so zurückhaltenden Art besonders nach.
Ihren Alltag als Obdachlose beschreibt Zeller so: Wer kein Dach über dem Kopf hat, der sei Tag und Nacht damit beschäftigt, zu überleben. «Am Morgen bist du steif von der Nacht. Und froh, dass du noch lebst.» Sie sei jeweils von einer Obdachlosenstelle zur nächsten getingelt, vom Begegnungszentrum zur Gassenküche in die Obdachlosenstelle und zurück – dorthin, wo es für wenig Geld oder Mithilfe in der Küche Frühstück oder Zmittag gab, wo sie das Handy aufladen konnte, neue Kleider erhielt. Und dorthin, wo ihre Freunde waren oder zumindest jene, denen es ähnlich ging. Diese Schicksalsgemeinschaft habe sich angefühlt wie eine Familie. So seien die Stunden vergangen, bis um 18 Uhr. «Dann, wenn andere Feierabend machen, gehst du in die Nacht hinaus und weisst: Jetzt bist du alleine.»
Regula Zeller schlendert die Gasse hinunter in die Basler Altstadt, wir reden nun schon über eine Stunde. Wie kam es dazu, dass sie auf der Strasse landete? Zeller denkt kurz nach, und ehe sie erzählt, was vorgefallen ist, ordnet sie das Ganze ein. «Es war einfach Schicksal», sagt sie und macht eine Pause, ehe sie weiterfährt: «Es wird dir so viel zugemutet, wie du tragen kannst.»
In ihrem Fall sei das wohl recht viel gewesen, entgegne ich, und sie nickt. Zeller, protestantisch erzogen, bezeichnet sich als gläubig, obwohl sie so gut wie nie in die Kirche geht. Natur statt Sakralbauten, Spiritualität statt Religion, höhere Macht statt Gott, so sieht sie das. Vor langer Zeit sang sie einmal im Kirchenchor, Altstimme. Das vermisst sie.
Das schwarze Schaf
Zeller wuchs mit drei Schwestern in einem Einfamilienhaus in Gunten am Thunersee auf – grosser Gemüsegarten, Obstbäume, Kaninchen. Der Vater war als Buchhalter selbständig, die Mutter machte den Haushalt. Viel Geld war nicht da, sie seien mehr oder weniger Selbstversorger gewesen, machten Gemüse und Beeren ein, liessen sich von Bauern in Naturalien bezahlen. Ferien verbrachte die Familie meistens zu Hause. Als Mädchen habe sie mit anpacken müssen, bei der Wäsche, beim Kochen, mit den Tieren, im Garten.
Die Erinnerungen seien schön, sagt sie, die Sommer im Garten, Kaulquappen fangen in der nahen Schlucht, Lesen auf dem Kachelofen. Handarbeit, Malen, Tagebücher. Aber sie war das schwarze Schaf unter den Schwestern. Nicht das nette, kleine Mädchen, das sich alle erhofft hatten. «Es gab eine Menge Zoff.»
Beruflich gab es für die Schwestern nichts zu wählen. «Wir mussten das lehren, was Papa gesagt hat.» Und das war zweimal Buchhändlerin, zweimal KV. Regula Zeller war die Kreative unter den Schwestern, sie strickte gerne und träumte davon, Goldschmiedin zu werden. Noch heute verarbeitet sie Stoffe, die sie günstig im Warenhaus oder auf dem Flohmarkt kauft; sie malt oder fertigt aus Zeitungsschnipseln Collagen, welche die Form einer Katze oder eines Kindes haben.
Die Ausbildung als Kauffrau, die sie absolvieren musste? «Ich hasste es.» Nach der Lehre zog Zeller nach Bern und lebte in einem 6-Parteien-Wohnblock in einem ruhigen Quartier, mit Polen, Italienern, Tschechen als Nachbarn, eine gute Gemeinschaft, in der man aufeinander achtgegeben und mit der man sich im Sommer im gemeinsamen Garten getroffen habe. Sie arbeitete damals beim Staat, als Sekretärin beim Güterzoll. Diese zwölf Jahre bezeichnet sie als die beste Zeit ihres Lebens.
Regula Zeller litt seit ihrer Jugend an psychischen Problemen, musste mal für einige Wochen stationär in die Klinik. Als sie 37 war, starb ihr Vater an Lungenkrebs. Er war das Bindeglied der Familie, an dem Regula Zeller trotz seiner Strenge sehr hing. Nach dem Tod des Vaters brachen lange schwelende Familienkonflikte auf. Auch ihre Mutter erkrankte, an Magenkrebs. Sie starb sieben Jahre später. Zeller pflegte sie bis zu ihrem Tod, Konflikte mit ihr legte sie bei. Nicht aber jene zu ihren drei Schwestern, mit denen der Kontakt komplett abgebrochen ist. Heute weiss sie nicht einmal, ob sie noch leben.
Als der Wohnblock, in dem Zeller lebte, renoviert wurde, zerfiel die Hausgemeinschaft. Den neuen Mietzins hätte sie nicht aufbringen können. Sie lebte damals von einer halben IV-Rente, die sie wegen ihrer Depressionen erhielt. Ihre Arbeit als Sekretärin hatte sie wegen ihrer Krankheit erst reduzieren, dann ganz aufgeben müssen. Sie zog nach Thun, in eine grosszügige Zweizimmerwohnung für 950 Franken pro Monat. Als sie 57 Jahre alt war, wurde ihr auch dort gekündigt, wieder musste sie sich nach etwas Günstigerem umschauen. Dieses Mal fand sie nichts Neues.
Leben in einer Parallelgesellschaft
Sie entschloss sich zu einem verheerenden Schritt: Sie ging zurück nach Bern, ohne eine Wohnung zu haben. Hoffte darauf, schnell wieder etwas zu finden. Ein paar Wochen vielleicht würde sie auf der Strasse leben müssen. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie die Zeit, die sie hatte – ohne Job und ohne Verpflichtungen –, nicht für die Wohnungssuche einsetzen konnte. Sie brauchte sie, um zu überleben. «Wenn du einmal auf der Strasse bist, dreht die Spirale schnell abwärts», sagt sie. Sie könne es sich heute noch nicht richtig erklären, erinnere sich aber noch, was sie dachte: «Ich fühlte mich wie in einem surrealen Film.»
Auf der Strasse lernte sie eine Parallelgesellschaft kennen, wie sie es ausdrückt, mit Kriminalität und Drogen, wobei sie den Unterschied zwischen «Gasse» und «Strasse» betont: Gasse sind die Drogenabhängigen, Strasse die anderen Obdachlosen, zu denen sie gehörte – zwei laut ihr verfeindete Gruppen. Ein Mann namens Ruedi zeigte ihr, wo die guten Schlafplätze sind, wo es Essen gibt, wie sie sich schützen kann und wie sie mit der Polizei umgehen sollte. «Er war mir ein guter Lehrmeister.»
Wir fahren mit dem Tram zurück zu Zellers Wohnung. Sie lässt den Fotografen und mich noch kurz herein, für ein paar Bilder. Am Küchenschrank hängt ein Zettel, darauf hat sie notiert, was sie alles essen darf und was nicht, sie muss auf ihren Cholesterinspiegel achten. Jahrelang war ihre Gesundheit mehr eine Art Beifahrerin gewesen. Das Leben auf der Strasse war hart, sie verlor 15 Kilogramm an Gewicht, verfügte über fast kein Körperfett mehr.
Dafür wurde sie muskulöser, vom vielen Laufen, den Rucksack stets am Rücken. Früher sei sie eine grazile, feminine Frau gewesen, erzählt sie und erinnert sich, wie sie einst als Hippie im Jupe auf einem Konstantin-Wecker-Konzert tanzte. Doch das seien «Tempi passati». Ihr Körper habe sich verändert, im Sommer trage sie keine Röcke mehr, dafür seien ihre Beine zu muskulös.
In der Schweiz testen verschiedene Kantone das Konzept «Housing First». Am weitesten ist die Stadt Basel, wo seit vier Jahren und noch bis im Herbst 2024 ein Pilotprojekt läuft. Derzeit lotet die Basler Regierung aus, wie es weitergehen soll. Sie hat dem Kantonsparlament das Massnahmenpaket «Housing first plus» vorgelegt. Zu diesem gehören unter anderem 40 Wohnstudios in einem Haus der Stadt. Mit der Umsetzung des Pilotprojekts ist die Heilsarmee Basel beauftragt.
Das Projekt sei bezogen auf die Teilnehmenden eine Erfolgsgeschichte, so der zuständige Leiter Thomas Frommherz. Für ihn ist klar: «Wohnen ist ein Menschenrecht.» Allerdings sei es schwierig, genügend günstigen Wohnraum zu finden sowie die «rough sleepers» zu erreichen, jene Obdachlosen, die permanent draussen übernachten. Ausserdem kann mit dem Projekt Sans-papiers nicht geholfen werden, da Basel-Stadt zur Bedingung macht, dass Obdachlose seit mindestens zwei Jahren im Kanton gemeldet sind. «Housing First» könnte sich auch in anderen Kantonen als Strategie gegen Obdachlosigkeit durchsetzen. In Solothurn und Freiburg sowie in der Stadt Lausanne laufen ähnliche Projekte wie in Basel. In Zürich soll noch in diesem Jahr ein Pilotprojekt starten. Und auch in Graubünden und Luzern wird auf politischer Ebene über «Housing First» diskutiert.
«Das Leben auf der Strasse ist das Grausamste, was dir passieren kann», sagt Regula Zeller. Am Ende hätte es sie fast umgebracht: In einer öffentlichen Dusche fing sie sich die Legionärskrankheit ein – eine schwere Lungenentzündung. Im Spital erlitt sie einen Herzinfarkt und musste reanimiert werden. Sie überlebte.
Nun hat sie ein zweites Leben, in dem sie nicht mehr täglich Essen und einen Schlafplatz suchen muss, sie kann jetzt Bücher lesen, stricken, klassische Barockmusik von Georg Friedrich Händel hören und sich um Dinge wie ihren Cholesterinspiegel kümmern. Für vieles, was andere in ihrer Freizeit machen, fehlt ihr jedoch das Geld. Zum Beispiel für ihren Wunsch, einmal ein klassisches Konzert besuchen zu können. Freunde gefunden hat Zeller noch nicht. Sie hat Prospekte von Chören gesammelt, die in der Gegend proben, dort würde sie vielleicht Kontakte knüpfen können. Aber eins nach dem anderen. «Ich muss erst einmal das hier schaffen», sagt sie.
Seit sie pensioniert ist, pflegt Zeller ein fast schon gewöhnliches Rentnerinnenleben. Ausser, dass sie immer noch in aller Früh aufsteht, dass sie den Grossteil der Tage draussen verbringt und dass sie nach 18 Uhr das Haus nicht mehr verlässt. Weil sie sich oft früh hinlegt. Und weil sie sich nicht sicher fühlt.
Die Angst bleibt
Einige Wochen später treffen wir uns noch einmal auf einen Kaffee im Zentrum von Basel, und ich frage sie nach ihrem Befinden. Es gehe ihr gar nicht gut, platzt es aus ihr heraus, sie fühle sich in der Wohnung nicht sicher. Die Haustür sei kaputt, es hielten sich immer wieder fremde Leute im Block auf, jüngere Bewohner würden um Geld betteln, ab und zu klopfe jemand an die Tür, doch da diese keinen «Spion» habe, mache sie nicht auf.
Die grausamste Zeit in ihrem Leben ist vorbei. Doch die Angst bleibt. Also wieder Flucht nach Bern, raus aus dem Käfig? Regula Zeller winkt ab. «Würde ich zurückgehen, wäre der Text, den Sie über mich schreiben, wohl mein Nachruf», sagt sie. Für das Leben auf der Strasse sei sie zu alt, ihr Rücken und ihr Herz würden das nicht mehr mitmachen.
Zeller sagt, sie suche nun eine kleine Wohnung in Kleinbasel, wo die Menschen offener, toleranter und herzlicher seien. Und meint damit: wo sie sich sicher fühlt. Auch wenn es schwierig werden könnte, auf dem Wohnungsmarkt etwas zu finden, ist für sie klar: «Ich muss weg.» Ihr Sozialarbeiter von der Heilsarmee unterstützt sie dabei.
Als wir uns bereits verabschiedet haben, muss ich an eine Anekdote denken, die mir Regula Zeller eher beiläufig erzählte, als sie mir ihre Wohnung zeigte. «Als ich obdachlos war, hatte ich einen Ring am Finger, mittendrin eine kleine Perle», sagte sie. Gekauft in einer Boutique, Edelstahl, nichts Teures. «Aber ich hatte ihn liebgewonnen über all die Jahre auf der Strasse.»
Der Ring habe zu den wenigen persönlichen Dingen gehört, die sie in all der Zeit bei sich hatte – und der nie verlorenging. Doch ausgerechnet beim Zügeln in die neue Wohnung sei die Perle aus dem Ring gespickt – und blieb verschollen. Zeller weiss nicht, ob sie dem nun eine Bedeutung beimessen soll oder nicht. Den Ring – ohne die Perle – bewahrt sie seither in einer Schublade auf.