Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Bilder: Michel Gilgen
Freitag, 31. März 2017

Eine Landschaft ohne Fixpunkte, nur vereinzelte Bauernhöfe, Wettertannen und Windturbinen. In der Ferne durchmessen Langläufer die Jurahöhen in geraden Linien. Wären die Loipen nicht vorgespurt, es wäre ein leichtes, sich zu verlaufen.

«Meine Geschichte mit den Täufern endete, als ich achtzehn wurde», sagt Samuel und richtet seinen Blick aus dem Autofenster. Er selbst nennt sich einen «Abtrünnigen». Gemeinsam sind wir unterwegs zum Mont Soleil.

Samuel und ich lernten uns bei der Arbeit auf einer Redaktion kennen. Mehr als eine Generation trennt uns, und doch wurden wir rasch Freunde. Gemein ist uns das Misstrauen gegenüber einfachen, geraden Geschichten. Vielleicht kam mir deshalb die Idee, seine Geschichte zu erzählen. Unsere Winterreise wird zu einer Suche nach Samuels täuferischen Wurzeln und beginnt mit der Erinnerung an die Toten.

Die Ferme

Das letzte Stück Weg führt von der Strasse ab. Das alte Bauernhaus, das hinter einer Gruppe von Tannen zum Vorschein kommt, ist heute Samuels Ferienhaus. Bis in die 1940er Jahre hat sein Grossvater auf der «Ferme» gebauert. Kennengelernt hat Samuel ihn nie – und doch trägt er seinen Namen. In seiner Kindheit reisten die Eltern mit ihm und seiner Schwester Lidia in den Schulferien und an den Sonntagen von Biel hierher, um Verwandte und Gottesdienste zu besuchen.

Wir halten an und gehen durch den Schnee zum Haus. Vor wenigen Tagen wurden hier minus zwanzig Grad gemessen. Heute aber liegt auch ein Hauch von Frühling in der Luft. Bis auf ein paar Dunstfetzen ist der Himmel klar.

Samuel Geiser

«Drinnen wird es kalt sein», sagt Samuel beim Eintreten. Im Eingangsbereich hängen Bauerngeräte an den Wänden: Getreideflegel, eine Holzsäge, Kämme, geflochtene Weidenkörbe, Emailkrüge, gegossene Bügeleisen. In einer Ecke steht eine mit Holzscheiten beladene Schubkarre. Samuel hat die Gegenstände aus dem Besitz seines Grossvaters wie in einem Ortsmuseum arrangiert.

Tannzapfen und Federbälle hängen von den niedrigen Türrahmen. Samuel duckt sich, als er das Zimmer mit dem Kachelofen betritt. Er nimmt ein grosses, in dunkles Leder gebundenes Buch zur Hand. Die Bibel kam 1813 in Familienbesitz. Zwischen den vergilbten Seiten liegen lose Blätter und Dokumente. Samuels Trauschein, Todesanzeigen, die handgeschriebene Dankeskarte eines Freundes. Das Dienstbüchlein vom Grossvater aus dem Jahr 1886 notiert eine Körperlänge von 169 Zentimetern, einen Brustumfang von 79 und «bronchitisch, chronisch». Am Ende steht der Befund: «untauglich».

Die Ansammlung von zeitlich ungeordneten Dokumenten und Erinnerungsstücken hat etwas Zufälliges, und doch fügen sie sich beim Durchblättern zur Collage eines Lebens zusammen. Samuel ist manchmal selber überrascht, worauf wir beim Stöbern treffen. Etwa als er den Zeitungsausschnitt vom 5. November 2008 findet, von dem Tag, nachdem Obama gewählt wurde: «Unser Hoffnungsschatzeli», sagt Samuel und fügt an: «Damals.»

«Zwingli feiern, ohne die Täufer einzubeziehen, ist seltsam»

Jürg Bräker ist der Generalsekretär der Täufer in der Schweiz ...

Februar 2019
Oliver Demont
Susanne Leuenberger
Marco Frauchiger

Im hinteren Teil der Bibel taucht ein grüner Papierbogen auf. Namensketten streben aus der Mitte der Zeichnung wie die Fallschirmchen eines Löwenzahns. Der Stammbaum der Familie Geiser. Ganz am rechten Rand vermerkt ist Samuel. «Ego» ist mit Bleistift markiert. Hinter ihm bleibt das grüne Blatt leer. Samuel hat keine Kinder. Er beugt sich über das Blatt, um den Eintrag im Zentrum zu entziffern. «Johannes, 1700, als erster im Jura.» Samuel ist 1950 geboren – zweihundertfünfzig Jahre liegen zwischen ihm und dem Namen in der Mitte.

Die Geschichte der Urgeisers, wie Samuel die ersten seiner Vorfahren im Jura nennt, beginnt Ende des 17. Jahrhunderts. Zwei Brüder aus Langenthal seien es gewesen, wird in der Familie erzählt. Sie flohen wie viele ihrer Glaubensbrüder vor der Berner Obrigkeit. Täuferjäger schwärmten in dieser Zeit bis in die hintersten Winkel des Emmentals. Die Urgeiser-Brüder fanden auf den Jurahöhen Zuflucht.

Ihren ersten Hof errichteten sie auf den Matten von Cortébert, 1150 Meter über Meer. Der katholische Bischof von Basel, der damals über die Jurahöhen gebot, erlaubte den Berner Täuferfamilien, sich hier niederzulassen. So kamen die Gerbers, die Habeggers, die Amstutzes, die Ummels – und eben die Geisers. Einzige Bedingung: Sie durften nicht missionieren und sollten sich von den Dörfern der Ansässigen fernhalten. Sie hielten sich daran. Bis weit ins 20.Jahrhundert bildeten die Täufer deutschsprachige Kokons in der frankophonen Juralandschaft.

Die Ferme, der heutige Rückzugsort von Samuel Geiser. Auf dem Dach hat ein Tier seine Spuren hinterlassen.

Mich beeindruckt die Radikalität, mit der die Täufer Glaubensfreiheit und eine Kirche der Bruderschaft und der Gewaltlosigkeit forderten. Kompromissloser als Zwingli hatten sich Felix Manz, Konrad Grebel und Jörg Blaurock, die am Anfang der Täuferbewegung standen, einst im Zürich der Reformationszeit gegen die Riten der Altgläubigen gestellt. Sie beteiligten sich an Predigtstörungen, sie kritisierten den Zehnten, die Heiligenverehrung, forderten den sofortigen Bildersturm, wollten eine neue Messe. Sola scriptura, das reine Bibelstudium, sollte den Glauben anleiten.

Mit ihrem Widerstand bildeten die Täufer so etwas wie den linksradikalen Flügel der Reformation, mit ihrer Gewaltlosigkeit waren sie Pazifisten avant la lettre.

Bald überwarfen sie sich mit Zwingli und dem Zürcher Stadtrat, da sie es ablehnten, ihre Kinder taufen zu lassen. Die Taufe sollte Ausdruck innerer Überzeugung sein und somit im Erwachsenenalter stattfinden. Ihren Glauben lebten sie fortan ausserhalb der Kontrolle der Amtskirchen. Ihre Nachfolge Christi verbot es ihnen, zur Waffe zu greifen und Militärdienst zu leisten.

Mit ihrem Widerstand bildeten die Täufer so etwas wie den linksradikalen Flügel der Reformation, mit ihrer Gewaltlosigkeit waren sie Pazifisten avant la lettre. Die Verfolgung nahmen die Täufer, später auch Mennoniten genannt, in Kauf. Felix Manz wurde 1527 in der Limmat ertränkt. Er sollte nicht der Einzige bleiben, Tausende Täufer wurden über die Jahrhunderte vertrieben und getötet. Erst mit Gründung des Bundesstaates 1848 fand die Repression ein Ende.

Die Geburt von Samuels Grossvater ist auf dem Geiser-Stammbaum mit 1866 datiert. Nun nimmt die Erinnerung Gestalt an: Grossvater Samuel wuchs auf den Jurahöhen auf, besuchte als Heranwachsender die Bibelschule im Baselbiet, ein oder zwei Winter lang, und kehrte für die Sommer zurück. Dann blieb er auch für die Winter. Es stand ausser Frage: Er würde weiter bauern.

Gut dreissigjährig, verfügte er dann über ausreichend Mittel, um einen grösseren Hof in Les Bulles, in der Nähe von La Chaux-de-Fonds, zu bewirtschaften. In dieser französischsprachigen Nachbarschaft wuchs auch sein Sohn Daniel auf. Der besuchte dort die Schule der Nichttäufer und lernte ihre Sprache: Als erster der Familie wurde er bilingue und trat damit ein Stück weit aus dem deutschsprachigen Exildasein der Täufer aus.

Vierzehn Jahre später zog die Familie wieder zurück in die Höhe, auf den Mont Soleil in die Ferme, in der Samuel und ich uns gerade befinden. «Niemand weiss genau, warum meine Grosseltern den Hof in Les Bulles aufgaben», sagt er. Die Ferme war deutlich kleiner, das Land unwirtlicher.

Daniel wurde das bäuerliche Leben Ende der 1920er Jahre zu eng. Seine Lehr- und Wanderjahre als Schreiner und Zimmermann führten ihn ins Emmental, wo er Ida kennenlernte. Auch sie eine Täuferin. Die beiden heirateten und zogen nach Biel. Er arbeitete in einem Schreinerbetrieb, sie als Haushaltshilfe. 1941 wurde Lidia geboren. Nur während der kargen Jahre gegen Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte die Familie noch einmal auf die Ferme zurück. Doch Ida hielt die Einsamkeit auf dem Mont Soleil nicht aus. In Briefen an die Schwägerin im Unterland schrieb sie, wie sie jede Nacht in Gedanken durch die Strassen Biels gehe. Als der Krieg vorbei war, zog die Familie zurück in die Stadt – für immer. 1950 kam Samuel zur Welt.

Samuel klappt die Bibel zu. Der Wegzug seines Vaters nach Biel sei seine Art der Emanzipation vom bäuerlichen Täuferleben gewesen: «Er hat sich bald als Arbeiter verstanden.» Er sei stolz darauf gewesen, bilingue zu sein. Bis zur Jurafrage in den 1960er Jahren. Da entschied sich sein Vater für die Berner Seite, so wie die meisten Täufer, nachdem der Front de libération jurassien zwei Täuferhöfe in den Freibergen in Brand gesetzt hatte. Als berndeutsch sprechende Minderheit waren die Täufer für die Widerstandskämpfer ein naheliegendes Ziel.

In der Ferme beim Blättern in der Familienbibel

Es ist kurz nach Mittag. Bevor wir aufbrechen, will Samuel mir noch den Dachboden zeigen, den er zu einem Schlafraum umfunktioniert hat. Auf einem kleinen Buchregal neben dem Bett reihen sich Gesangbücher. Gegen Ende seines Lebens habe sein Vater Daniel begonnen, die Liederbände zu sammeln.

Im Grunde, sagt Samuel, sei sein Vater trotz seinem Aufbruch ein Migrant in diesem Biel geblieben. Die Kindheit auf der Höhe habe er nie ganz hinter sich gelassen. «Er hat den Mont Soleil einfach eingepackt und mit nach Biel genommen.» Da war etwa das sonntägliche Spiel auf dem Harmonium. Eines Tages hatte sein Vater Daniel die «Heuchlerkommode», wie die Täufer sie zuweilen ironisch nennen, vom Mont Soleil in die städtische Stube geholt. Am Sonntagmorgen setzte er sich an das Instrument, rückte den Stuhl zurecht und schlug das Gesangbuch auf. Dann legte er die kräftigen Hände auf die Tasten, platzierte die Füsse auf die Tretschemel. Schleppend suchte er die Melodie mit beiden Händen, er musste sie regelrecht ertasten. Es kamen falsche Töne, krumme Anschläge. Herrscher der Ewigkeit, Welch ein Freund ist unser Jesus. Ein Lied, zwei, das nächste.

Samuel ist zum Archivar des väterlichen Heimwehs geworden. Er erinnert mich an einen verlorenen Sohn, der immer wieder zurückkehrt und das Grab seiner Ahnen pflegt.

Samuel sagt, damals habe er sich über die väterliche Kakophonie geärgert. Sie beschämte ihn fast ein bisschen. Heute kann er die schiefen Klänge einordnen: «Der Vater musste das tun. Er hatte Heimweh nach dem vierstimmigen Gesang. Sehnsucht nach der Täufergemeinschaft.» Der Klang seiner Kindheit brachte ihn zurück auf die Jurahöhen.

Samuels Neugier hat etwas Distanziertes und gleichzeitig Intimes. Es ist die Neugier des Historikers, der zum Archivar des väterlichen Heimwehs geworden ist. Der französische Theologe und Philosoph Michel de Certeau beschrieb die Arbeit des Historikers einst als «ein stellvertretendes Begräbnisritual». Durch sein Sammeln und Ordnen bewahrt auch Samuel das Vergangene vor dem Vergessen und schafft sich damit eine Welt der Ahnen, von der aus er selber aufgebrochen ist. Samuel erinnert mich an einen verlorenen Sohn, der immer wieder zurückkehrt und das Grab seiner Ahnen pflegt.

Mir wird bewusst, wie sehr sich diese Erinnerungskultur von meinem eigenen Umgang mit meiner religiösen Biografie unterscheidet. Auch ich zähle mich zu den Abtrünnigen. Als Kind war ich ungewöhnlich fromm, ich hielt mich an Jesus fest. Als Teenager aber schüttelte ich die Religion meiner Eltern ab, sehr heftig sogar. Mein Vater war Katholik, meine Mutter Anglikanerin. Ich habe gestritten, alles in Frage gestellt, ich war wütend – und erklärte schliesslich Gott für tot. Mein Zugang zu Religion heute ist analytisch, nicht historisch. Ich wurde Religionswissenschaftlerin und studierte Philosophie, um aus einer weiten Distanz auf Religion zu blicken.

Anders als Samuel habe ich niemals das Bedürfnis verspürt, an einem kollektiven Gedächtnis teilzuhaben. Vielleicht, weil es das bei den Katholiken auch gar nicht gibt. Die katholische Kirche braucht keine Erinnerungskultur. Sie ist präsent, sie ist die Mehrheit, und ich habe kein schlechtes Gewissen, sie verlassen zu haben. Ich musste es tun, um meinen eigenen Platz zu finden.

In der Ferme, mit dem Ausblick auf Tannen.

Die Täufer hingegen sind eine Minderheit, stets in der Gefahr zu verschwinden. 2300 Täuferinnen und Täufer leben heute noch in der Schweiz. Auch wenn sie nicht mehr verfolgt werden, ist ihr Weiterbestehen trotzdem prekär geworden. Heute lassen die Menschen von sich aus den Glauben und die Gemeinden hinter sich.

Das meiste, was ich über die Täufer weiss, hat mir Samuel vermittelt. In der Täufergeschichte kennt er sich aus. Auf seinem Arbeitstisch in Bern stapeln sich die Mennonitica, die Jahrbücher des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte. Die Texte handeln von den Ursprüngen der Täuferbewegung oder beschäftigen sich mit Fragen der Ahnenforschung. Samuel liest jede Ausgabe, nur selten lässt er einen Text aus. Er kenne, sagt er, keine vergleichbaren Studien, keine vergleichbare Ahnenforschung, die von Reformierten betrieben werde.

Samuel geht es nicht nur darum, die Toten zu betrauern und vor dem Vergessen zu bewahren. In sein Geschichtsbewusstsein mischt sich auch Wut – und Widerstand. Er will der offiziellen Geschichte, welche die «Sieger der Reformation», die Reformierten, über sich selbst erzählen, etwas entgegensetzen: «Die Reformation hätte auch anders ausgehen können.» Die Möglichkeit, die Geschichte neu zu erzählen, verbindet Samuel mit einer revolutionären Hoffnung, die über die «Täuferei» hinausweist. Es ist das utopische Versprechen, «dass am Ende doch noch alles gut kommt».

Die Chapelle von La Chaux-d’Abel

Wir sind wieder im Auto. Erneut Windturbinen am Rand des Blickfelds, davor Trockensteinmauern, die Weideland abtrennen. Die Fahrt von der Ferme zur Chapelle von La Chaux-d’Abel, unserer zweiten Station, dauert nur wenige Minuten.

Das Gemeindehaus, wie die Täufer die Chapelle nennen, liegt auf einer Anhöhe. Kein Turm, kein Kreuz, ein einfacher quaderförmiger Bau, erbaut 1905. Einzig die schmalen, hohen Rundbogenfenster deuten an, dass es sich nicht um einen profanen Bau handelt.

Wir folgen den gewundenen Treppenstufen, die gleich hinter der Tür in den Predigtsaal hinaufführen. Das Tannentäfer leuchtet im Mittagslicht und verleiht dem Raum einen goldenen Glanz. In Frakturschrift wurde auf die Kanzelfront «Seid Thäter des Worts» ins Holz geätzt. Eine Jugendband hat einen Verstärker und ein Schlagzeug in eine Ecke gestellt, im vorderen Teil wurden die Sitzbänke zusammengerückt. Hier wurde Samuel als Neugeborener eingesegnet und damit in die Gemeinde der Täufer aufgenommen.

Samuel lehnt sich an eine Säule in der Mitte des Saals und blickt in den Raum. Als Bieler Stadtkind sei ihm die sonntägliche «Täuferei», wie er sie nennt, seltsam entrückt vorgekommen: die Jurahöhen, die Onkel, die Tanten, die vielen Cousins und Bekannten, die Predigt, das Zvieri.

Ich kann die Menschen, die Samuels Kindheitserinnerungen bevölkern, gar nicht alle auseinanderhalten. Viele heissen Sämi mit Vornamen, und dann all die Geisers, Gerbers, Gygers oder Looslis. Zpredig ging man hierher nach La Chaux-d’Abel oder in die Chapelle auf dem Moron ob Belleley. Man besuchte sich nach der Predigt. Auch die Bieler Geisers, Daniel, Ida und die Kinder Sämeli und Lidia, reisten mit Zug und Postauto an. Manchmal holte sie Onkel Sämi mit dem Opel Rekord ab, Samuels Lieblingsonkel, der Weltmännische, der Lustige, der Freche. Er hatte es als Tapissier und Möbelverkäufer in den Nachkriegsjahren zu etwas gebracht. In Le Fuet besass er ein eigenes Geschäft und einen grossen Weinkeller. Er rauchte. Davon durfte die Gemeinde aber nichts wissen. Dein Körper ist dein Tempel, sagen die Täufer: «Tabak war tabu», erklärt Samuel.

Prächtig-schlicht: das Gemeindehaus der Täufergemeinschaft auf La Chaux-d’Abel.

Lieblingssämi hatte etwas von einem Lebemann. «Er suchte Statussymbole.» Die Nachkriegsjahre, in denen Samuel aufwuchs, waren auch für die Täufer eine Zeit des sozialen Aufstiegs. Damit einher ging ihre gesellschaftliche Integration. Viele hatten Erfolg als Kleingewerbler, manche machten im Sanitätszug des Militärs Karriere, auch wenn das in der Gemeinde nicht gern gesehen war. Die Abgrenzung zu den Nichttäufern schwand, viele sprachen nebst Deutsch Französisch. Und auch die Distanz zur reformierten Amtskirche wurde kleiner. Samuels Tanten mütterlicherseits begannen, reformierte Gottesdienste zu besuchen. Viele andere aus Samuels Elterngeneration hielten jedoch an den Riten der Täufer fest.

Zu den schönsten Erinnerungen aus seiner Kinderzeit gehören für Samuel die geselligen Nachmittage nach dem Gottesdienst. Nach der Predigt brachte Onkel Sämi die Bieler Geisers wieder runter ins Tal. Im Auto imitierte er den fast weinerlichen Pathos des Hilfspredigers, die vielen Ooohs und Aaahs, wenn er am Erntedankfest die Schönheit der Schöpfung lobte. Alle lachten. «Das war filmreif», sagt Samuel. Darüber musste selbst Samuels Vater Daniel schmunzeln. Seiner Liebe zum Täuferischen tat das aber keinen Abbruch. «Guet hei sie gredt, schön hei sie gsunge», sagte er jeweils, wenn die Gemeinde sich nach der Predigt auf einem der Höfe traf. Alle sassen beieinander. Es gab Zimetschwarztee und Kuchen.

Samuel blickt auf die Uhr. «Hast du auch Hunger?» Beim Hinausgehen werfe ich den Stapel Gesangsbücher um, der neben dem Eingang auf einer Sitzbank liegt. Im Aufenthaltsraum im Erdgeschoss essen wir Sandwiches. Ein Staubsauger steht mitten im Zimmer, der Holzofen ist an. Jemand muss vor kurzem noch hier gewesen sein, wird wohl bald wiederkommen. Wir sprechen über Samuels Kindheit in Biel und seinen langsamen Abschied vom Glauben seiner Eltern. Seine Kindheit in zwei Welten. Er habe immer gewusst, dass er anders sei als die Schulkameraden in Biel.

Da waren eben diese Sonntage. Samuel verbrachte sie öfter auf dem Mont Soleil oder auf dem Moron, nie besuchten die Geisers die Stadtkirche wie die Familien der Klassenkameraden und Nachbarskinder. «Gäll, Sämeli, wenn sie in der Schule vom Zwingli erzählen, glaub ihnen nichts», sagte seine Mutter, «der hat unsere Vorfahren umgebracht». Mutter Ida versorgte den kleinen Sämeli mit Täufergeschichten. Er hatte Angst vor dem Zwingli, auch wenn er wusste, dass der längst tot war. Das Haus mit dem Turm und dem Hahn zog ihn trotzdem an. Für ihn war dies das Haus der Mächtigen. Samuel war bereits sechzehn, als er die Stadtkirche zur Schulschlussfeier zum ersten Mal betrat.

Es ist schwer, den Moment des Bruchs festzumachen. Aus Sämeli wurde einfach irgendwann Samuel. Statt zur Predigt zu gehen, blieb er lieber im Bett.

Seine Mutter habe ein naives Geschichtsbild gehabt, sagt Samuel. Sie vererbte ihm ihre Leidenschaft für Geschichte. Und den Sinn dafür, zu einer Minderheit zu gehören. «Ein Aussenseiter war ich als Schulbub aber nie.» Er war lang und sprenzelig, jedoch gut im Rennen und im Rechnen und im Deutsch der Beste. Die Kollegen liess er spicken. Der andere Sämeli der Klasse, auch er ein Freikirchenkind, hatte weniger Glück: «Die Kameraden stellten ihn als Stündeler in eine Ecke.» Er hingegen sei, meint Samuel, irgendwie «durchgeschlüpft».

Auch von der Unterweisung, die ihn mit anderen Täuferjugendlichen auf die Erwachsenentaufe vorbereitete, hätten die Schulkameraden kaum etwas mitbekommen. In der Neunten, mit sechzehn, wurde er am Samstagmorgen von der Schule dispensiert. Mit Zug und Postauto fuhr er dann in den Jura auf den Moron, in die Chapelle bei Bellelay. Als Gymnasiast konnte er wenig damit anfangen: «Mir hat das recht gestunken.» Er interessierte sich damals mehr für das Weltgeschehen als für die Freuden eines reinen Herzens. Die Vietnamproteste waren in vollem Gange, und die jurassischen Autonomisten drängten auf Unabhängigkeit von Bern.

Womöglich war es jugendliche Rebellion. Vielleicht waren es auch die Vorboten der 68er Bewegung, die Samuel als Stadtkind mitbekam. Wahrscheinlich war seine Sympathie für die Widerständigen auch ein ungewolltes Erbe der mütterlichen Geschichtskritik: Jedenfalls fieberte der Sechzehnjährige mit den Juraautonomisten. Hatten nicht die Täufer einst auch die Berner Obrigkeit abgeschüttelt? Er verstand den jurassischen Widerstand, diesen Drang nach Befreiung. Und begriff nicht, warum die Täufergemeinden sich damals hinter die Berner stellten: «Ausgerechnet die Berner, die waren doch einst auch unsere Unterdrücker.»

«Seid Thäter des Worts»: die ins Holz gebrannte Wahrheit im Predigtsaal der Chapelle

1966 war wohl einfach ein schlechtes Jahr für eine Erwachsenentaufe. Im London Evening Standard gab John Lennon ein Interview über die Beatles: «We’re more popular than Jesus now» – wir sind jetzt beliebter als Jesus. Samuel verstand nicht, warum die Prediger auf dem Moron gegen die Abtreibung redeten, während draussen die Welt brannte. «Mit diesem Moralin konnte ich nichts mehr anfangen.» Trotzdem schrieb er dem Prediger den üblichen Brief, dass er sich taufen lassen wolle – auch wenn er längst auf dem Absprung war.

Es ist schwer, den Moment des Bruchs festzumachen. Aus Sämeli wurde einfach irgendwann Samuel. Er war nun achtzehn. Mittlerweile besuchte er das Lehrerseminar in Bern. Nur die Wochenenden verbrachte er noch bei seinen Eltern in Biel. Am Sonntagmorgen klopfte der Vater an der Zimmertür seines Sohnes. Es sei Zeit für die Predigt, ob er mitkomme? – «Ach, ich bin noch so müde», antwortete Samuel. Der Vater insistierte nicht. Bevor er zusammen mit der Mutter die Wohnung verliess, heizte er den Ofen nochmals ein, damit Samuel weiterschlafen konnte. Dass er traurig war über den Verlust des Sohnes, sagte er ihm nie.

Für den Vater sei es gleich ein doppelter Verlust gewesen: «Ich verliess den Glauben meiner Väter, und ich verliess das Handwerk.» Samuel wurde ein Intellektueller. Er studierte, politisierte sich, trug bald Bart und einen Reportermantel. Die Marxseminare traten an die Stelle der Täuferunterweisung. Samuel wurde Mitglied der linkssozialistischen Poch. Aus Biel und dem Mont Soleil wurde Bern und später auch Berlin.

«Vielleicht», sagte der Vater eines Tages zu Lidia, Samuels älterer Schwester, «muss ich auch anfangen, Flugblätter zu verteilen.» Sprach aus diesen Worten der Wunsch, den Sohn nicht zu verlieren? Nachgelaufen ist er ihm trotzdem nicht. Vater Daniel marschierte nie Seite an Seite mit dem Sohn. Er wurde nie ein Intellektueller, nie ein 68er. Dennoch hat er verstanden, dass die Utopien und Kämpfe des Sohnes auch etwas mit ihm zu tun hatten – mit Daniel, dem Arbeiter, aber vielleicht auch mit Daniel, dem Täufer.

Denn im Grunde hat sich Samuel trotz seinem Ausbruch nie ganz vom Täuferischen entfernt. Hat er nicht in der linken Utopie der Gleichheit etwas vom Traum der Brüderlichkeit wiedergefunden? Hat er nicht den mütterlichen Sinn für das Aussenseitersein in seine politische Arbeit hinübergetragen?

In den 1980er Jahren begann Samuel für die Schulstelle Dritte Welt zu arbeiten. Hier entwickelte er Lehrmittel über die Kolonialisierung und Entkolonialisierung der Neuen Welt und Afrikas. Später wurde er Journalist beim Berner Saemann, einem reformierten Blatt mit linker, kritischer Tradition.

Er wisse, es töne geschwollen, sagte Samuel mir einmal bei einem Bier, aber er sehe die Geschichte der «Mennos», wie er die Täufer nennt, als eine der vielen Unterdrückten und Verfolgten. «Ich fühle mich mit ihnen verbunden.»

Wir treten ins Freie. So viele Geschichten, so viele Tote, so viele Anfänge, Brüche und Fortsetzungen. Unsere Winterreise ist noch nicht zu Ende. Ein verlorener Sohn braucht ein lebendes Gegenüber, zu dem er zurückkehren kann. Also machen wir uns wieder auf. Unsere letzte Station heisst La Coronelle.

La Coronelle

Ein Hund kläfft. Aus Richtung Stall ist das Surren der Melkmaschinen zu hören. Mit der einsamen Nostalgie ist es nun vorbei. Nur wenige Höhenmeter unter dem Mont Soleil, auf halbem Weg zwischen der Chapelle und der höher gelegenen Ferme, liegt das Gehöft La Coronelle, in einer Senke unterhalb des Waldrands. Wenn Samuel und seine Partnerin ihre ruhigen Tage auf dem Mont Soleil verbringen, holen sie hier Milch und Käse und für Silvester Fleisch.

Wir haben uns mit Christa Eisinger-Loosli verabredet. Erst als wir bereits mitten in der Küche stehen, taucht sie aus dem Stall auf. Es war nicht einfach, eine freie Stunde mit ihr zu finden.

Feuer gefangen

Am Reformationssonntag 1978 strahlte das Schweizer Fernsehen d...

Juni 2020
Susann Sitzler

Als wir am Küchentisch Platz nehmen, wird mir bewusst, dass Christa der erste lebende Mensch ist, dem wir hier auf den Jurahöhen begegnen. Sie ist neunundvierzig Jahre alt, fast eine Generation jünger als Samuel. Dennoch lebt sie am ehesten das Leben seiner Vorfahren auf dem Mont Soleil. Mit ihrem Mann betreibt sie einen Hof mit fünfundzwanzig Milchkühen, auf einem anderen hält sie Rinder. Einige Zeit leitete sie die Täufergemeinde von La Chaux-d’Abel.

Über die Täuferei habe er mit Christa aber noch nie gesprochen, sagte mir Samuel auf der Fahrt hierher. Christa ist die Tochter von Theo Loosli. Jenem Dorflehrer und Prediger auf dem Moron, der Samuel als Sechzehnjährigen taufte. Plagt ihn so etwas wie das schlechte Gewissen eines Abtrünnigen?

Christas Blick ruht abwechselnd auf Samuel und mir. Samuel eröffnet das Gespräch, gleicht die Erinnerungen ab, fast vorsichtig. «Ich kann mich noch besinnen, nach der Unterweisung ist man zu euch nach Hause zum Zvieri gekommen.»

Als Samuel 1966 die Unterweisung beim Vater Loosli besuchte, war Christa noch gar nicht auf der Welt. Wie Samuel war sie ein Nachzügler, das neunte von zehn Kindern der Predigerfamilie. Sie wuchs auf dem Moron auf, 1100 Meter über Meer, oberhalb von Tavannes, von der Coronelle aus zwanzig Kilometer Luftlinie. Mit zwanzig Jahren heiratete sie den Deutschen Helmut Eisinger, Sohn einer ausgewanderten Täuferin aus dem Jura. Die beiden haben vier Kinder. In den späten 1990er Jahren übernahmen sie La Coronelle vom alten Täuferprediger Isaak Sprunger. Es war erwünscht, dass eine Täuferfamilie auf den Hof kommt, um das Weiterbestehen der Gemeinde zu sichern. Heute zählt die Täufergemeinde von La Chaux-d’Abel noch fünfundvierzig Mitglieder. Nur etwa die Hälfte kommt regelmässig zum Gottesdienst. Viele, sagt Christa, seien mittlerweile zu alt geworden.

Vom oberen Stock her dringt Jazzmusik. Immer wieder dieselbe sanfte Melodie, die anschwillt und manchmal ganz abbricht. Es ist Sohn Julian. Er studiert Saxophon am Konservatorium in Bern. Die Familie brachte die Musik Ende der 90er Jahre zurück auf den Mont Soleil. Jedes der Kinder spielt ein Instrument, der Mann Klavier, Christa selber spielt die Orgel und liebt den Gesang.

«Man hilft sich aus, man kennt sich», sagt Christa. Einen anonymen Kirchgang gibt es nicht; wer in der Gemeinde mitmacht, wird nicht vergessen. Man trifft sich zu Gebets- und Bibelabenden und sonntags zum Gottesdienst. Die Prediger wechseln sich ab. Oft sind es Laien, die die Sonntagspredigt halten. Die Anlässe sind zur Hälfte deutschsprachig, zur Hälfte französisch. An den Samstagnachmittagen treffen sich die «Flambaux», die Kinder, zu Spiel und Bibelunterricht.

Christa Eisinger-Loosli am Küchentisch von La Coronelle.

Ihr Glaube, sagt Christa, höre nicht nach der Predigt auf. Schon öfter beschäftigte die Bäuerin Menschen in schwierigen Lebenslagen auf dem Hof. Ein Flüchtling half bei Maurerarbeiten aus. Die Täufer auf den Jurahöhen kennen eine lange Tradition der Fremdenliebe. Vielleicht, weil sie einst selber fremd waren. In den 1970er Jahren fand ein Mann aus dem damaligen Zaire auf einem abgeschiedenen Täuferhof Zuflucht, bis ihn die Fremdenpolizei mit Helikoptern aufspürte. Letztes Jahr überlegte die Gemeinde, ob es die Möglichkeit gebe, Flüchtlinge aufzunehmen. Der Wille sei da, es fehle aber an Leuten, die das durchziehen können, sagt sie. «Wir sind wenige in der Gemeinde.» Bisher sei es bei Geldspenden geblieben.

In der Täufergemeinde von La Chaux-d’Abel gibt es keinen Vorstand. Alles wird am Gemeindeabend um den runden Tisch ausdiskutiert: «Jeder ist willkommen. Jeder übernimmt Verantwortung.» Die Autonomie der Täufergemeinden könne aber auch belastend sein, sagt Christa. Kaum hatte sie damals die Leitung übernommen, kam es zu Konflikten: Der Prediger liess sich scheiden. Samuel zieht die Augenbrauen hoch: «Eine Scheidung?»

Der Fall stürzte die Gemeinschaft in die Krise. Es war das erste Mal, dass sich ein Täuferprediger scheiden liess. Man diskutierte, stundenlang, las die Bibel, um Rat zu finden. Für einige Familien war der Mann nicht mehr tragbar. Sie fürchteten, die Scheidung könne einen schlechten Einfluss auf die Kinder haben. Die Gemeinde stellte sich am Ende hinter den Prediger. Für Christa war klar, eine Scheidung kann es geben, «jeder kann scheitern». Einige Familien wechselten jedoch die Gemeinden – sie konnten den Entscheid nicht mittragen. Das ganze sei sehr schmerzvoll gewesen: «Wir verloren Freunde.»

Die Scheidung sorgte schweizweit für heftige Diskussionen. Der Prediger nahm eine Auszeit und kehrte dann zurück. Einige umliegende Gemeinden reagierten heftig. Lange Zeit wurde er geschnitten. «Nun haben sich die Wogen aber geglättet.»

Einen Moment ist es still. Samuel stützt das Kinn in die Hand. Dann richtet er sich auf. Eine Scheidung wäre früher undenkbar gewesen. Und auch diese Selbstbestimmung hat er so selbst nie erlebt. Die Zeiten haben sich auch für die Täufer verändert: «Ich empfand es immer so, dass nur die Ältesten bestimmen. Es war alles moralisch, sehr eng. Diskussionen gab es keine. Eine solche Offenheit kannte ich nicht.»

Christa stimmt zu. «Früher war alles strenger und klarer.» Auch sie erlebte es so, als sie Kind war. Ihr Vater, meint sie dann, habe vielleicht noch zu der letzten Generation gehört, in der alleine das Wort der Prediger und Ältesten galt. Einen Vorwurf mache sie ihm aber nicht: «Vater dachte, es sei das Beste. Es war seine Art, Verantwortung zu übernehmen.» Das Leben als Patriarch sei hart gewesen, sagt Christa. Jahrelang hatte der Vater in der Täuferschule die erste bis neunte Klasse unterrichtet und sonntags auf der Kanzel gestanden.

«Als Predigerfamilie lebten wir im Glashaus.» Als die älteren Brüder die Haare wachsen lassen wollten, verbot es der Vater. Sie taten es trotzdem. Christa erinnert sich, wie sich die älteren Geschwister gegen den Vater aufgelehnt hätten: «Am Sonntagnachmittag wurde am Küchentisch laut diskutiert.» Der Drang nach mehr Autonomie, die Auflehnung gegen Hierarchien, hatte irgendwann auch die einsamen Jurahöhen erreicht.

Samuel hört gespannt zu. Fragt nach, erzählt aus seiner Sicht. Christas Erinnerungen unterscheiden sich von seinen. Er hatte selber nie das Gefühl, dass man etwas hätte in Frage stellen dürfen. Für ihn sei als junger Mann alles zu «frömmelig» gewesen, «diese Glaubensgewissheit machte mir Mühe». Er habe sich halbherzig taufen lassen, gibt er schliesslich zu, ohne Überzeugung. Weil es eben so gemacht wurde. «Eigentlich grundfalsch.» Samuel macht eine Pause. Zögert – und fragt dann doch: ob sie selber nie Zweifel gehabt habe. An Gott. Christa überlegt, sucht nach Worten. An Gott selber habe sie bis heute nie gezweifelt, sagt sie. Aber doch gäbe es Momente, in denen sie ihren Glauben in Frage stelle: «Leben wir richtig?» Je älter sie werde, desto mehr Fragen habe sie, desto tiefer wolle sie gehen: «Wir diskutieren viel mit den Kindern.»

Irgendwann hört die Musik auf. Sohn Julian holt sich ein Stück Kuchen. Er setzt sich an den Tisch. Alle vier Kinder sind getauft. Ohne gezwungen worden zu sein, wie Christa mit einem Schmunzeln anfügt. Heute ist die Ganzkörpertaufe im Freien in Mode gekommen, «die meisten Jugendlichen wollen das so». Viele Täufergemeinden haben den Taufstil anderer Freikirchen übernommen.

Dann erzählt Christa etwas sehr Unerwartetes. Sie selber habe sich damals, mit sechzehn, gegen die Taufe entschieden. Als Einzige in der Gemeinde. Nicht etwa aus Zweifel am Glauben. Im Gegenteil. Sie tat es, um gegen die vielen Jugendlichen ihrer Generation zu protestieren, die sich ohne Überzeugung taufen liessen. «Es war damals üblich. Man erwartete das von ihnen.» Der Druck war gross. Viele hätten sich taufen lassen – und dann den Mennoniten den Rücken zugekehrt. «Ich fand das falsch.» Die Sechzehnjährige schrieb dem Vater einen Brief, in dem sie ihren Verzicht begründete. Beide Eltern standen hinter ihrem Entscheid. Erst später, Anfang zwanzig, holte sie die Taufe nach. «Ich finde, ein Mensch soll sich nur dann taufen lassen, wenn er wirklich dahintersteht und überzeugt ist.» Und dann sagt sie: «Alles andere ist untäuferisch.»

Samuel atmet hörbar aus. Vielleicht fühlt er sich ertappt. Er, der sich mit sechzehn ohne Überzeugung taufen liess, um sich dann der gottlosen Mehrheit anzuschliessen. Eigentlich ist gar nicht so klar, wer einen weiteren Weg gegangen ist: der selbsternannte Abtrünnige, der in Biel startete und in Berlin landete. Oder die Täuferin, die zwanzig Kilometer Luftlinie von hier entfernt geboren wurde, sich aus Protest nicht taufen liess und mit ihrer Gemeinde viele Krisen und Erneuerungen durchmachte. Die, die immer geblieben ist.

Vielleicht, denke ich mir, ist alles eine Frage des Standorts, eine Frage der Verwurzelung, ob man eine Tradition weiterführt oder sie aufgibt. Wäre Samuel auch Täufer geblieben, wenn er hier auf dem Mont Soleil aufgewachsen wäre? Hätte er dann auch die Sehnsucht nach dem Gesang in sich weitergetragen?

Ich frage Christa, wie es mit der Gemeinde weitergeht. Ihre Kinder, meint sie, seien verwurzelt mit dem Mont Soleil und La Chaux-d’Abel. Sohn Christian ist Landmaschinenmechaniker, er arbeitet mit auf dem Hof und besucht nebenher ein freikirchliches theologisches Seminar. Sohn Julian ist Musiker. Letztes Jahr stellte er einen Chor auf die Beine. In alle Haushaltungen schickte er einen Aufruf. Es meldeten sich nicht nur Täufer. Letzten November fand das erste Konzert in der Chapelle statt. Sie hätten Gospel, Jazz und Volkslieder gesungen.

Christa ist sich sicher, dass ihre Gemeinde eine Öffnung braucht, um zu überleben. Seit einigen Jahren nimmt sie an ökumenischen Anlässen mit Landeskirchen in der Nachbarschaft teil. Auch andere Gemeinden kämpfen um jede Familie. Manche nähern sich dabei charismatischen Freikirchen an. Christa ist gespalten, was diese Entwicklung angeht. «Wir Täufer zelebrieren keine Wunder. Wir sind eher Kopfmenschen.» Doch vielleicht stimmt das mit der Kopflastigkeit auch nicht ganz. Denn da ist ja noch der Gesang, der sehnsüchtige Klang des Chores, der die Erinnerung an die lange Zeit der Verfolgung am Leben erhält. Auch Christa kommt gegen Ende des Gesprächs darauf zu sprechen. Im Grunde träume sie davon, wieder mehrstimmig zu singen. Sie seien weniger Stimmen als auf dem Moron hier in La Chaux-d’Abel: «Der volle, vierstimmige Gesang fehlt mir.»

Es wird Zeit für die Heimreise. Was bleibt von einer Identität, wenn einer seine täuferische Kindheit hinter sich lässt? Familienfotos. Die Gesichtszüge. Alte Bauerngeräte. Gesangbücher. Das Anteilnehmen an einer Art kollektivem Gedächtnis. Eine Skepsis gegenüber der Reformationsgeschichte, wie sie von der Landeskirche erzählt wird. Der Sinn dafür, Aussenseiter zu sein, aus einer Minderheit zu kommen. Der Traum von Brüderlichkeit und der Sinn für Widerstand.

Wenige Stunden nach unserer Rückkehr schickt mir Samuel eine E-Mail mit «Nachgedanken». Er habe neulich ein Zitat aufgeschnappt: «Tragisch – da bemühen wir uns fünfzig, sechzig Jahre, eine Identität aufzubauen. Dann merken wir, dass es doch nur eine Konstruktion ist. Leider fällt uns dann schon das Herbstlaub vom Kopf.»

Vielleicht definiert einen verlorenen Sohn, einen Abtrünnigen gerade eine grundsätzliche Skepsis gegenüber jeder Form der Identität und jeder Art der Geschichtsschreibung. Sogar wenn es die eigene ist.