Im Fraumünster zwischen Paradeplatz und Limmat hob ein Mann seine Arme. «Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes – Amen.» Johannes Block zeichnete ein Kreuz in die Luft. In den Bänken warfen sich Besucher vielsagende Blicke zu. Leise Seufzer waren vereinzelt zu hören.
Ein Sonntag im September 2020. Johannes Block, Pfarrer an der Stadtkirche St. Marien zu Wittenberg, war eigens ins rund 600 Kilometer entfernte Zürich gereist. Hier hatte er sich auf die Pfarrstelle beworben. Der Amtsinhaber stand vor der Pension, und nun musste ein neuer her. An diesem Sonntag wollte man ihn, den Lutheraner, auf der Kanzel des prestigeträchtigen Fraumünsters sehen oder viel wichtiger: hören. Die Predigt an diesem Sonntag war Teil des Auswahlverfahrens. Es lief gut für Block. Ausser ihm war nur noch ein Pfarrer aus der Schweiz im Rennen.
Blocks Predigt handelte von Jeremia und wie Gott ihn auf- forderte, sein Leben umzukrempeln. «Umkehr!» Dann sprach er von Martin Luther, auch er ein Umkehrer. Dieser hatte zunächst Jura studiert, ging dann ins Kloster und wurde später Pfarrer in Wittenberg. Von dort aus trat er die Reformation los. Dann wandte sich Block an die Kirchgängerinnen und erinnerte sie daran, dass der Gottesdienst nicht bloss Dekoration eines privilegierten Lebens sein dürfe. Umkehr, auch für sie. Was der Amtsanwärter Johannes Block in diesem Moment nicht sagte: Er sprach auch ein bisschen von sich. Auch bei ihm gab es einen Zeitpunkt im Leben, an dem er sein Leben umkrempelte und zum Umkehrer wurde.
Nach dem Gottesdienst strömte das Kirchenvolk auf den Münsterhof. Kleine Gruppen bildeten sich. Es wurde getuschelt und gemutmasst, ob das Kreuzschlagen noch lutherisch oder bereits katholisch gewesen sei. Reformiert jedenfalls, da war man sich einig, das war’s nicht.
13 Menschen suchen einen neuen Pfarrer
Januar 2020, acht Monate vor Blocks Predigt. Eine Gruppe kam im Saal des Lavaterhauses unweit des Fraumünsters zusammen, um das Wahlverfahren in die Wege zu leiten. 13 Menschen waren nun auf der Suche nach einem neuen Pfarrer oder einer Pfarrerin. 11 von ihnen hatte das Stadtzürcher Kirchenparlament bestimmt, 2 weitere die gewählte Gruppe selbst. Das jüngste Mitglied war um die 50, alle anderen standen vor oder nach der Pension. Dieses und weitere Treffen kreisten um die Frage, was denn der Neue alles können müsse. Es wurde diskutiert, bisweilen auch gestritten.
Beispielsweise darüber, ob die Verkündigung des Evangeliums «dialektisch» sein solle oder doch besser «in der Tradition der Theologen Bonhoeffer, Barth und Brunner». Eine Minderheit wollte gar nichts von beidem. Sie hatte Sorge, dass mögliche Bewerber durch die hochgestochene Formulierung für die Stellenausschreibung abgeschreckt würden. Gemeint waren Frauen und Junge. Und überhaupt, für sie wirkte das geplante Stellenprofil zu sehr auf einen älteren Herrn zugeschnitten. Die Befürchtung war gross, dass da eine in der Vergangenheit verharrende Gruppe damit beschäftigt war, einen «Klon des bisherigen Pfarrers» zu suchen.
Beispielsweise darüber, ob die Verkündigung des Evangeliums «dialektisch» sein solle oder doch besser «in der Tradition der Theologen Bonhoeffer, Barth und Brunner». Eine Minderheit wollte gar nichts von beidem. Sie hatte Sorge, dass mögliche Bewerber durch die hochgestochene Formulierung für die Stellenausschreibung abgeschreckt würden. Gemeint waren Frauen und Junge. Und überhaupt, für sie wirkte das geplante Stellenprofil zu sehr auf einen älteren Herrn zugeschnitten. Die Befürchtung war gross, dass da eine in der Vergangenheit verharrende Gruppe damit beschäftigt war, einen «Klon des bisherigen Pfarrers» zu suchen.
Die Einwände fanden keine Mehrheit. Am 6.März wurde die Stellenanzeige im Internet publiziert. Darin war zu lesen, dass es das Evangelium «in der Tradition der dialektischen Theologie» auszulegen gelte und verlangt werde, «Bildungsarbeit» für eine «anspruchsvolle Gemeinde» zu leisten. Ebenso müsse er oder sie durch «Gewandtheit in der Öffentlichkeitsarbeit und publizistische Fähigkeit» glänzen und «die historische Bedeutung » des Fraumünsters mit angemessenem «Engagement» zu pflegen wissen – schliesslich habe man eine «bedeutende Predigtstelle» zu vergeben. Dem Pfarrer stünde bei einer Wahl der 1000 Mitglieder zählende «Fraumünster-Verein» unterstützend zur Seite. Dieser ist eine Art Fanclub des Fraumünsters mit einigen reichen Förderern, die sich im Hintergrund halten. Für die Mitglieder werden Barth-Leseabende und Ausflüge organisiert, ebenso erhalten sie die «Fraumünster-Nachrichten» zugestellt.
In einer der letzten Ausgaben konnte man lesen, dass die ganze Stadt registriere, wie neidvoll die Nachbarskirchen auf das Gemeindeleben des Fraumünsters blickten. Lobend erwähnt wird auch die überdurchschnittliche Qualität der Videos, die das Fraumünster in Zeiten der Pandemie produziert habe. Die Vereinsmitglieder verfügen über ein Standesbewusstsein, das sich in keiner anderen Kirche der Stadt finden lässt. In Gesprächen wird gerne erwähnt, dass hier eben auch Professoren, Investmentbanker und andere wichtige Persönlichkeiten ein und aus gingen. Ebenso sei der Pfarrer Mitglied des exquisiten Rotary-Clubs am Rennweg – wo sich jede Woche Vertreter der Schweizer Wirtschaftselite zum Mittagessen treffen. Der Verein hat aber auch Gewicht, wenn es darum geht, den neuen Pfarrer zu bestimmen: Sechs Mitglieder sitzen in der Wahlkommission, drei von ihnen mit Stimmrecht.
Eine Reise zum Besten nach Wittenberg
In der Kirche ist es angenehm kühl. Wäre der Beamer an, könnte der Besucher Lutherzitate an einer Säule lesen. Prominent im Raum steht die Taufe, an der bereits Luther wirkte. Block ist seit zehn Jahren Pfarrer der Gemeinde. Zum ersten Mal war er 1990 hier, ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer. Der Landstrich um Wittenberg, in dem damals die ostdeutschen Chemiewerke standen, sei ihm als Theologiestudent aus dem Westen wie eine Mondlandschaft vorgekommen. «Dann aber stand ich vor dieser Kirche, und wenig später drinnen vor dem weltberühmten Cranach-Altarbild. Ich war überwältigt und dachte: Das gibt es ja wirklich!» Ob er hier stand und sich vornahm, später einmal Luthers Nachfolge anzutreten? Nein, es sei ganz anders gewesen. Das Pfarramt habe ihn nicht sonderlich interessiert. Doch die Theologie! Ihre «höchsten Höhen» wollte er erforschen, sagt er, und ihre «tiefsten Tiefen». Block sagt solche Sturm-und-Drang-Sätze oft, nur dass sie bei ihm nicht aufgesetzt wirken. Vielmehr spricht er sie mit einem Zögern aus, nachdenklich.
Ein Junge sucht seinen Platz in der Welt
Aufgewachsen ist Johannes Block in einer Pfarrfamilie in Bad Pyrmont, 20 000 Einwohner, westdeutsche Provinz. Sein Vater Detlev Block war Gemeindepfarrer, Lyriker und Kirchenlied- dichter. Drei seiner Werke lassen sich auch im reformierten Gesangbuch der Deutschschweiz finden. Er war aber auch Autor. Rund achtzig Bücher hat er verfasst, darunter den Titel «Astronomie als Hobby – Sternbilder und Planeten erkennen und benennen». Als Bub gehörte der Kindergottesdienst für Johannes Block zum Sonntag. An Weihnachten nahm der Vater ihn und seine Geschwister mit ins Altersheim. «Blockflöte spielen», erinnert sich Block, aber eben auch «die Nase zeigen».
Eine ungeliebte Aufgabe. «Wir halten das noch heute unserem Vater vor.» Block schmunzelt. Mit «wir» meint er die Schwester und seine zwei Brüder. In dieser Zeit habe er auch bemerkt, dass die Menschen, die zu seinem Vater in den Gottesdienst kamen, nicht einfach ein Publikum waren, das ihn aus Gewohnheit predigen hören wollte, sondern dass sich hier eine Gemeinschaft traf. Blocks Kindheitserinnerungen erinnern stark an die Worte, die er in seiner Predigt im Fraumünster an das Publikum richtete.
Ein stiller Teenager sei er gewesen, habe sich damals zurückgezogen und dabei Gitarre gespielt und gesungen, sagt Block. Die Lieder von Wolf Biermann zum Beispiel. Er erinnere sich noch gut daran, wie er Anfang der achtziger Jahre von seinem Taschengeld die Platten des DDR-Liedermachers gekauft habe. Dessen Aufbegehren gegen die Diktatur imponierte Block. In dieser Zeit habe er über das Sein gerätselt und einen Anker im Leben gesucht. Sein Bedürfnis nach Rückzug vertrug sich nicht mit der Rolle als Pfarrerssohn. Von Mitschülern und Lehrern wurde er immer ein bisschen genauer beäugt, erinnert er sich. Zuzugeben, dass im Hause Block vor dem Essen gebetet wurde – unangenehm. Und dann auch noch sein biblischer Vorname – Johannes. Einmal, in einem Streit mit einem Gleichaltrigen, habe er diesem «Ratte» entgegengeschleudert. Seine Chemielehrerin, die danebenstand, konnte fast nicht glauben, was sie da eben aus dem Mund des Pfarrerssohnes vernommen hatte.
In dieser Zeit verlor auch der Gottesdienstbesuch an Bedeutung. Doch gab es ein Konzert in der Kirche, das ihn interessierte, dann ging er hin. Ebenso an den Feiertagen. Sonst aber wurden andere Dinge wichtiger. Er war 17 oder 18 Jahre alt, da begann er sonntags in den Hügeln um Bad Pyrmont die Flugschule zu besuchen. Dort hob er immer wieder mit dem Segelflieger ab, bis sich im Himmel jener Augenblick ereignete, an den er auch heute noch regelmässig zurückdenken muss. Block war hoch oben und flog Runden, als er aus dem Tal Glockengeläut hörte. Gleich würde unten in der Kirche der Vater zur Gemeinde sprechen. Er habe in diesem Moment zuerst eine Zerrissenheit gespürt, sagt Block, dann Wehmut. Es sei schwer, das Gefühl von damals in Worte zu fassen. Aber es war so etwas wie die Gewissheit, dass es da noch etwas anderes geben musste als ein Leben im Hier und Jetzt. Oder wie Block es sagt: «Das Geheimnis war im Ton der Glocke verborgen.»
Von Jura zu Theologie

«Nur wer die Reformation als Weltbürgerin sieht, begreift sie als Ganzes.» Johannes Block
«Die Kirche sollte sich verhalten wie ein selbstbewusster, in sich ruhender Single, der niemandem hinterherrennt und sich nicht anbiedert.» Johannes Block
In Wittenberg begleitet Pfarrer Block immer wieder Kamerateams, Touristinnen und Staatsgäste wie König Carl Gustaf und Silvia von Schweden durch Kirche und Gassen. Es sei viel, was noch alles zu seiner Arbeit als Pfarrer dazukomme. Er habe manchmal das Gefühl, dass die nächste kirchliche Pressemitteilung mehr Priorität geniesse, als dem Wort aus der Bibel nachzuspüren.
Ins Arbeitszimmer zurückziehen und eine Predigt schreiben, das sei ihm wichtiger als an einem Apéro im Rathaus Hände schütteln. Später in einem Café zieht er die Fraumünster-Stellenausschreibung aus seiner Aktentasche, hält sie hin und sagt anerkennend: «Dialektische Theologie!» Dass eine kirchliche Kommission solch einen theologischen Fachbegriff verwende, das habe ihn gefreut und sei eine Seltenheit. Ebenso dieZusicherung, die er vor Stellenantritt in Zürich erhalten habe: Die Verkündigung werde seine Haupttätigkeit sein.
Lutheraner versus Reformierter
Der Vorschlag, die Anzeige nochmals zu schalten, wurde von der Kommissionsmehrheit verworfen. Ebenso, dass die harten Kriterien Theologie und Bildungsarbeit verhandelbar seien. Abstriche wolle man aber bei den weichen Kriterien machen. Eine Familie war nun nicht mehr nötig (auch wenn man schon gerne jemanden gehabt hätte, der – wie der amtierende Pfarrer – mitsamt seiner Familie ins stattliche Pfarrhaus an der Limmat gezogen wäre). Und nun wollte man sich auch über die Bewerbungen aus dem Ausland beugen. Am Ende standen eine Frau und drei Männer in der engeren Auswahl. Alle vier verfügten über eine Anstellung an einer theologischen Fakultät. Die Frau und ein Mann zogen sich nach dem Erstgespräch aus dem Bewerbungsverfahren zurück. Nun standen sich der Lutheraner Block und ein Reformierter aus der Schweiz gegen- über. Beide mussten einen Gottesdienst leiten. Der Reformierte im August, der Lutheraner im September.
Seit dreissig Jahren ist der emeritierte Theologieprofessor Christian Möller Wegbegleiter von Block. Getroffen haben sich die beiden Anfang der neunziger Jahre im Studentenwohnheim der Universität Heidelberg. Möller hatte gerade die Professorenstelle angetreten und wohnte dort vorübergehend. Er erinnert sich: «Wir haben im Aufenthaltsraum gefuttert, Nachrichten im Fernsehen geschaut und uns über Theologie ausgetauscht.» Viele gesellige Stunden hätten sie seitdem verbracht, sagt Möller. Block sei aber auch der Typ Mensch, der sich nach einer gewissen Zeit in der Gemeinschaft zurückziehen muss, um Klavier zu spielen oder in der Bibel zu lesen. Möller glaubt, dass seine Sehnsucht nach Einsamkeit zu einer gewissen Distanz zwischen ihm und den Menschen führe – und genau dies erzeuge Sehn- sucht nach ihm: «Macht Block einen Rückzug, dann führt ihn das paradoxerweise geradewegs in die Mitte.»
Der Lutheraner überzeugt
Ende September 2020, nach den Gottesdiensten im Fraumünster, schien klar: Block hat das Rennen gemacht. Der Lutheraner sei tadellos vorbereitet gewesen, wird berichtet, seine Predigt ausserordentlich. Spätestens jetzt war im Lavaterhaus Feuer unter dem Dach. Selbst die Block-Gegner in der Auswahlkommission wussten, dass der Lutheraner geliefert hatte. Sie trugen erneut ihre Befürchtungen vor. Bestünde nicht die Gefahr, dass mit Blocks Art langjährige Gemeindemitglieder heimatlos werden könnten? Und wie solle man erklären, dass der künftige Pfarrer ein Kreuz in die Luft schlägt? Block-Unterstützerin und Kommissionsmitglied Barbara Becker will sich zu Details aus der Wahlkommission nicht äussern. Sie sagt aber: «Die meisten Kirchenmitglieder kommen doch gar nicht ins Fraumünster, sondern suchen sich einen klassischen reformierten Gottesdienst, wie er in einem Wohnquartier angeboten wird.» Die Ausgangslage am Fraumünster sei eine andere: «Hier hat man es mit einer theologisch besonders anspruchsvollen Gemeinde zu tun, mit der man neue liturgische Formen durchaus ausprobieren kann.»
Aber auch am Schweizer Kandidaten wurde Kritik laut. Zwar war er reformiert und jünger als Block. Aber auch er war ohne Familie. Ausschlaggebend waren aber die Zweifel in Bezug auf seine theologische Beschlagenheit. Die war zwar sehr gut, entsprach dann aber in der Ausrichtung und Substanz doch nicht dem, was man im Fraumünster die kommenden Jahre hören wollte. An dieser Stelle hätte das Auswahlverfahren enden können. Die Block-Gegner schafften es dann aber doch, die übrigen Kommissionsmitglieder davon zu überzeugen, nochmals eine weitere Aufgabe an die Kandidaten zu stellen. Nun galt es, eine Adventsandacht auf Video aufzuzeichnen.
Im Fraumünster bekanntermassen eine Paradedisziplin während Corona, auf die man stolz war. Nach Sichtung der eingereichten Beiträge war unter den Kommissionsmitgliedern klar: Block lieferte erneut – und wieder in einer Qualität, die viele in der Kommission entzückte, selbst einige Skeptiker. Nur so lässt sich erklären, dass am Ende Johannes Block mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde. Nur eine Person stimmte gegen ihn.
Von besorgten Zürchern und ihren Ängsten
Im vergangenen Januar wurden die Mitglieder des Fraumünster-Vereins in einer E-Mail darüber informiert, dass der neue Pfarrer Johannes Block heisst. Wenig später wurde die Personalie öffentlich. Grosse Titel des Landes vermeldeten, dass mit Block erstmals ein Lutheraner von der Fraumünster-Kanzel predigen wird.
Im Oktober des Jahres 1529 treffen Martin Luther aus Wittenberg und Huldrych Zwingli aus Zürich in der Stadt Marburg zusammen. Fünf Tage lang diskutieren sie und ihre Delegationen miteinander mit dem Ziel, eine Kirchengemeinschaft zu bilden. Dabei werden sie sich in vielen Fragen einig – bei der wichtigsten allerdings zerstreiten sie sich: Luther hat die Vorstellung, dass beim Abendmahl Jesus Christus in Wein und Brot anwesend sei. Zwingli hingegen kann in der Feier nur ein Symbol der Erinnerung erkennen. Die «Marburger Religionsgespräche», wie Historikerinnen sie heute nennen, scheitern.
450 Jahre währte die Trennung der beiden Konfessionen. Erst 1973 näherten sich Lutheraner und Reformierte an und formulierten in der «Leuenberger Konkordie» eine Kirchengemeinschaft. Die unterschiedlichen Vorstellungen vom Abendmahl blieben bestehen, doch man einigte sich darauf, dass der gemeinsame Grund des Glaubens die Gegensätze überwunden hatte. Endlich konnte gemeinsam das Abendmahl gefeiert werden.
Was waren die Folgen der Trennung?
In der Zeit, in der man getrennte Wege ging, bildeten sich jedoch Unterschiede aus. Lutheraner kennen bis heute eine von oben nach unten organisierte Kirche, an deren Spitze ein Bischof steht. Die Reformierten betonen ihre von unten nach oben aufgebaute, demokratische Organisation mit den Gemeinden im Mittelpunkt. Der Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts hatte dafür gesorgt, dass sich bis heute die Formen der Gottesdienste zwischen Lutheranern und Reformierten stark unterscheiden.
Küsste Zwingli im 16. Jahrhundert noch die Bibel, schlug das Kreuz und überreichte knienden Kirchgängern das Brot zum Abendmahl, so fuhr den Reformierten im Laufe der Zeit die Frömmigkeit aus den Körpern. Heute falten sie noch die Hände und senken den Kopf zum Gebet. Die lutherischen Rituale im Gottesdienst orientieren sich dagegen stärker an der gestenreichen katholischen Messe. Aber auch im Kirchenraum lassen sich Unterschiede ausmachen: Während der reformierte karg daherkommt, glänzt es im lutherischen noch immer golden vom Altar und farbenfroh von der Wand.
Trotz der Unterschiede strömen seit der «Leuenberger Konkordie» vor allem Deutsche Pfarrer in die Schweiz – selten verhält es sich andersherum. Der Grund ist ein weltlicher: In Deutschland wurden in den siebziger und achtziger Jahren mehr Theologinnen ausgebildet, als von den Landeskirchen tatsächlich gebraucht wurden. Diese fanden vor allem im dünn besiedelten Kanton Graubünden, der lange unter Pfarrmangel litt, ein neues Zuhause.
Bei der Kirchenpflege gingen daraufhin wütende Briefe, E-Mails und Telefonate besorgter Bürgerinnen und Pfarrer ein. In einem Beitrag in der «Weltwoche» stellte der Sohn des legendären früheren Fraumünster-Pfarrers Peter Vogelsanger jene Fragen, die viele im reformierten Zürich hatten: Warum kein reformierter Pfarrer für die reformierte Prestigekirche Fraumünster? Warum Millionen in reformierte Universitäts- Theologie stecken, um am Ende einen Lutheraner zu holen?
Was sei das für ein Zeichen, in einer eh schon schwächelnden Volkskirche ausgerechnet einen Lutheraner aus Wittenberg zu holen? Irgendwie beschleiche einen das Gefühl, dass es die Reformierten selbst nicht mehr brächten.
Zudem sei Block dem Kommunismus zugeneigt, habe er sich doch in einem Interview wohlwollend über das bedingungslose Grundeinkommen geäussert. Bis auf die Kritik an der Person von Johannes Block stiess der Beitrag auf viel Zuspruch im reformierten Zürich. Bekannte Namen kritisierten hinter vorgehaltener Hand insbesondere das Gebaren des Fraumünster-Vereins und seiner Akteure. Ihr elitärer Gestus sei für viele wenig einladend und von aussen betrachtet auch nicht ganz frei von Komik. In diesem Kontext müsse auch die Wahl eines Lutheraners gesehen werden.
Da ist aber auch die Sorge um das reformierte Zürich, ja um die reformierte DNS der Schweiz generell. Was sei das für ein Zeichen, in einer eh schon schwächelnden Volkskirche ausgerechnet einen Lutheraner aus Wittenberg zu holen? Irgendwie beschleiche einen das Gefühl, dass es die Reformierten selbst nicht mehr brächten.
Block und das Geheimnis
Vier Monate vor Amtsantritt am Fraumünster bereitet sich Johannes Block an der Ostsee auf seine neue Aufgabe vor. Drei Monate verbringt er in der Universitätsstadt Greifswald in einer Art Sabbatical der Kirche. Am Ende wird er die Insel Rügen um- segeln. Als Treffpunkt hat Block ein Institutsgebäude der theologischen Fakultät vorgeschlagen, das in einem Wohngebiet im Grünen liegt. Als er auf dem Rad eintrifft, folgen auf die Begrüssung die üblichen Corona-Floskeln beim gemeinsamen Betreten eines geschlossenen Raumes. Maske auf oder ab? Geimpft oder ungeimpft? Drinnen holt er zwei Flaschen Limonade aus seinem Rucksack. Dann sagt er, dass er noch nicht geimpft sei. «Vielleicht im Herbst, wenn die nächste Infektionswelle heranrollt.»
Was ihm aber Bauchweh bereite, sei der Druck von Seiten der Politik auf die Menschen, sich um jeden Preis impfen zu lassen. Auf die Ausführungen, warum man sich impfen lasse, legt Block seinen Kopf leicht schief, wartet einen Moment und sagt dann: «Ja, vielleicht haben Sie recht. » Trotz sichtbarer Skepsis scheint es, als ob Block über das Gesagte tatsächlich nachdenken wolle. Johannes Block ist weder gegen die Impfung, noch leugnet er Corona. In seiner Reaktion zeigt sich vielmehr eine Wesensart von ihm: ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Meinungen, die er als vorherrschend erachtet. Das gilt auch für die Kirche. In seiner Ausbildung zum Pfarrer Ende der neunziger Jahre habe er bemerkt, wie viel politische und gefühlige Worte von der Kanzel fielen und wie wenig das alles mit Theologie zu tun hatte. «Da wurde von den Nichtigkeiten des Pfarralltages erzählt oder mit erhobenem Zeigefinger von den Problemen dieser Welt berichtet.»
Blocks Sache ist das nicht. Damit verkomme die Predigt zu einem Appell, was es zu tun gilt und was man denken soll. Viel lieber mag er, «gegen den Strich zu bürsten», wie er es nennt. Also nicht nur immer von Gnade zu sprechen, sondern eben auch von der Sünde, die in jedem Menschen angelegt sei und den Gläubigen in Selbsterkenntnis schule. Ganz dem Zeitgeist entsprechend habe die Kirche dieses Wort aus dem Gottesdienst verbannt. Block ärgert das. «Es könnte ja schliesslich Menschen abschrecken.» Dabei verkenne man, dass Sünde eben nicht nur die einzelne Tat meine, sondern dass der Mensch sich in einem Selbstbild verstrickt habe, das besage: Kannst du nichts, bist du nichts. Ein anderer Punkt, der Block an der Kirche missfällt: ihre Gefallsucht. Stattdessen wünsche er sich eine Kirche, die mehr in sich ruhe, die stärker Freude an sich selbst zeige. «Sie soll sich verhalten wie ein selbstbewusster Single, der niemandem hinterherrennt und sich auch nicht anbiedert. Alles andere erstickt doch die Sehnsucht im Keim», sagt der Single Block.
Die Kritik aus Zürich an seiner Berufung hat ihn in der Zwischenzeit auch erreicht. Er beteuert, dass er als Lutheraner die reformierte Liturgie nicht über den Haufen werfen werde: «Ich habe nicht die Absicht, die lutherische Form am Fraumünster einzuführen.» Er könne sich aber durchaus vorstellen, da und dort andere liturgische Formen auszuprobieren. Mehrere Sprecher bei der Lesung beispielsweise oder ein gesungenes Gebet. In der stark vom Humanismus geprägten reformierten Liturgie wieder mehr Raum für das «Geheimnis» schaffen, wie Block es nennt. Das sei gerade in der durchrationalisierten Welt von heute wichtig.
Die grosse Herausforderung für den künftigen Pfarrer am Fraumünster wird aber nicht seine Herkunft oder seine Theologie sein, sondern dass er auf einen Club mit ziemlich hohen Erwartungen trifft. Wäre das ein Date, die Aussichten stünden nicht zum Besten. Damit es doch klappt, wird ihm die Kirchgemeinde eigens einen Mentor zur Seite stellen, damit er mit den Raffinessen der reformierten Liturgie möglichst schnell vertraut wird. Auch ins Pfarrhaus an der Limmat wird er einziehen. Dann gilt es, sich zwei Jahre im neuen Umfeld zu beweisen, um am Ende vom reformierten Stimmvolk und dann vom Kirchenparlament der Stadt Zürich als 26.Pfarrer des Zürcher Fraumünsters bestätigt zu werden.
Die Brücke Wittenberg–Zürich, Block wird sie meistern. Besässe die Reformation eine Staatzugehörigkeit, dann wäre sie in seinem Verständnis eine Weltbürgerin. «Nur so lässt sich die Reformation als Ganzes begreifen», sagt Block. Er werde deshalb auch als evangelischer Christ nach Zürich reisen und nicht als Lutheraner aus Deutschland. In der Stadtkirche St. Marien zu Wittenberg zeigt ein Fenster ein abstraktes Motiv, das ausschaut, als ob zwei Steine in einen See geworfen worden wären und nun ihre Wellen aufeinander zuschwappen würden – eine Analogie zum Verlauf der Reformationen in Europa. Wenn Wellen aufeinandertreffen, dann schwappen sie übereinander und addieren sich in der Höhe. Es ist, als befinde sich Block mit seinem Denken genau an diesem Punkt: Er will die Konfessionen einander nahebringen, um neue Höhen zu erreichen. Irgendwie.
Tom Kroll ist Redaktor bei bref.
Die Fotografin Marlena Waldthausen lebt in Berlin.