Linder liest

«Was isch hüt los?»

Wie die Hornussergesellschaft Studen-Madretsch einen Internet-Hit landete.
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Autor: Lukas Linder
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 30. Juni 2023

Es erreicht uns eine erfreuliche Nachricht aus der Welt des Hornussens. Wie blick.ch berichtet, hat die Hornussergesellschaft Studen-Madretsch ein Video auf Tiktok gestellt, das sage und schreibe 8,6 Millionen Mal angesehen wurde. Der Amateurverein, der seit längerem ums Überleben kämpft und momentan bloss acht statt der zum Wettkampf benötigten sechzehn Mitglieder zählt, zeigt sich überrascht über den Erfolg.

Noch überraschender wird er, wenn man sich das Video einmal anschaut. Darin ist ein kräftig gebauter Jungprofi mit kurzgeschnittenem Haar und blauem Sportdress zu sehen, der soeben zum Abschlag ansetzt, wobei er, wie der fachkundige Blick-Journalist schreibt, «den auf einen Bock aufgesetzten Nouss ins Feld knallt». Im Hintergrund steht die rustikale Vereinshütte, vor der zwei Gestalten an einer Festbank das Geschehen mit vagem Interesse verfolgen. Die ganze Szenerie wird von einer mächtigen Kastanie überragt. Nach dem offenbar misslungenen Abschlag soll der Junior laut Blick zerknirscht «Was isch hüt los?» raunen, so leise, dass man Kopfhörer benötigt, um die leicht schwermütige Frage überhaupt verstehen zu können.

Als studierter Philosoph stelle ich mir hier natürlich die folgende Frage: Wie ist es möglich, dass dieses kurze Video so unfassbar häufig angesehen wurde? Damit soll nichts gegen das ehrbare Hornussen und die Gesellschaft Studen-Madretsch gesagt sein, der man all diese Klicks nur gönnen kann, damit ihr die fehlenden acht Mitglieder zulaufen und sie endlich in den Wettkampf starten kann. Trotzdem darf vorsichtig festgehalten werden, dass in der Geschichte der Menschheit schon fesselndere Filme produziert wurden.

Man sieht ja nicht einmal, wo der Nouss hinfliegt. Der sportliche Mehrwert ist demnach marginal. Geht es also um Exotik? Oder ist es gerade die Beschränktheit des Clips, die den Betrachter zum Träumen einlädt? Dafür sprechen Kommentare wie «Junge fliegt das Ding jetzt bis nach Malle or wa?» Die elliptische Erzählform, die uns das Ende raffiniert vorenthält, lässt die Phantasie des Betrachters quasi selber zum Nouss werden, der die Grenzen des digitalen Kosmos durchbricht und bis nach Malle oder noch viel weiter fliegt.

Vermutlich ist das grosse Interesse an diesem Video viel einfacher zu begründen: Die Leute sehen sich einfach an, was sich andere vor ihnen schon angesehen haben. Wir haben es also wieder einmal mit jener tautologischen Erklärung zu tun, die man heute als unbefriedigende Antwort auf so viele Fragen unseres Daseins erhält und sich auf eine bündige Formel bringen lässt, die da lautet: Wer hat, der hat. So weiss man etwa, dass der Werdegang vom Tellerwäscher zum Millionär nur ein romantischer Mythos ist. Reich wird, wer vorher schon reich war.

Auch Bestseller, so scheint mir in meinen besonders übellaunigen Schriftsteller-Phasen, schreiben sich am besten dann, wenn man bereits für ein solches bekannt ist. So werden beispielsweise die Bücher von Martin Suter jeweils mit den Worten «Der neue Bestseller» angekündigt. Wenn das Glück bereits gemacht ist und es keine Rolle mehr spielt, wo der Nouss landen wird, dann hat man Erfolg. Und doch bleibt eine Frage: Wie hat alles angefangen? Was hat die ersten, sagen wir mal, zehntausend User auf Tiktok dazu bewogen, ausgerechnet den Clip der Hornusser von Studen-Madretsch aufzurufen?

Der Kastanienbaum raschelt. Der Nouss fliegt. Das Bier wird langsam schal. «Was isch hüt los?» fragt der Junge das schweigende Universum. Da kommt ganz am Ende des Clips wie eine Art Schlusspointe ein älterer Herr mit Schirmmütze, vermutlich der Trainer des Jungen, von vorne links ins Bild gelaufen und ruft: «Nid studiire.»

  • Wo die Menschen vom Himmel fallen

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