Linder liest

Die unsichtbare Uniform

Ein Slapstick während seiner Zeit beim Zivilschutz lässt unseren Kolumnisten über Strenge und Unordnung nachdenken.
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Autor: Lukas Linder
Donnerstag, 14. November 2024

Vor Jahren habe ich einen Betrüger in flagranti erwischt. Ich absolvierte damals meinen jährlichen Zivilschutzdienst im Pflegeheim, wo ich mit den Bewohnern Uno spielte und Ausflüge zum Kaninchenstall unternahm. Meine Existenz war von ungewohnt viel Sinn und Verantwortung erfüllt. Ich fühlte mich wie der Schutzpatron der Alten und Bedürftigen, wozu auch meine Uniform beitrug. In Schlammbraun-Orange gehörte sie zwar nicht zu den prächtigsten des Landes, doch legitimierte sie mich in meiner Mission.

Als ich einmal in der Mittagspause in der Stadt unterwegs war, bemerkte ich neben der Post einen jungen Mann, der mit den Worten «Da drüben wäre dann der Bankomat, Herr Blum.» einen gebrechlichen Herrn zum Geldautomaten führte. Bei mir schrillten alle Alarmglocken. Hier sollte gerade ein wehrloser alter Mann seines Vermögens beraubt werden.

Nicht mit Uno-Man, dem Rächer aller AHV-Empfänger! Meine Uniform leuchtete, meine Stimme klang wissend und bestimmt, als ich den Übeltäter zur Rede stellte: «Entschuldigung, es ist hochverdächtig, was hier gerade geschieht.» Der junge Mann drehte sich um. Ich sah es unter seinem Wintermantel orange leuchten, sah das Namensschild auf schlammbraunem Grund: «Es ist alles in Ordnung», sagte er mit einem Lächeln. «Ich bin vom Zivilschutz.»

Eine Uniform ist immer auch ein Spiegel des Geistes. Der Slapstick vor dem Postgebäude passt zu meiner eher verwirrten Natur, die Zivilcourage zeigt, um ihresgleichen zu stellen (es sind mir auch nicht viele Rächer bekannt, die sich beim Übeltäter erst einmal entschuldigen). Und er passt zum Charme des Zivilschutzes, dessen Bierernst zuverlässig von der Wirklichkeit unterlaufen wird. Unangenehmer sind jene Uniformen, die man gar nicht sieht – zum Beispiel die gedanklichen.

In einem Leitartikel in der «WOZ» hat Daria Wild neulich über die vielen kleinen Ordnungstheater geschrieben, die derzeit in der Schweiz aufgeführt werden: «Man soll wieder richtig leiden in der Schule, den Haushalt wieder richtig straffen, Geschlechter wieder richtig einsortieren … eine pausenlose Darbietung sinnloser Strenge.»

Strenge ist vermutlich nur für denjenigen sinnlos, der sie erfährt. Wer sie ausübt, empfindet hingegen besonders viel Sinn darin. So wie unsere Regierung, die gerade in einer Identitätskrise steckt. Aussenpolitisch tritt sie seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine rat- und mutlos auf und bietet statt Geld und Waffen lieber gute Dienste an, die keiner braucht. Dafür gibt sie im Innern, wie Daria Wild ausführt, den harten Mann, so als wolle sie ihre Feigheit vergessen machen. Sie erinnert dabei an einen Vater, der sich auf der Arbeit nicht durchsetzen kann und seinen Frust zu Hause an der Familie auslässt.

Ich weiss, wovon ich spreche. Nur dass sich meine Familie von meinen Wutausbrüchen nicht im geringsten beeindruckt zeigt. Das liegt wahrscheinlich an der Zivilschutzuniform, die ich in gewisser Weise immer noch trage, obwohl ich längst nicht mehr bei dieser Organisation mitmache. Sie bewirkt, dass bei mir jeder Anflug von Strenge ins Gegenteil verkehrt wird. Man kann mich einfach nicht ganz ernst nehmen. Mit Anfang zwanzig leitete ich bei uns im Dorf einen Jugendsportverein. Leichtathletik, Geräteturnen, Dauerläufe standen auf dem Programm. In Wahrheit haben wir jede Woche Affenfangis gespielt.

Jeder Mensch trägt so eine unsichtbare Uniform. Die einen wirken darin etwas lächerlich, die anderen macht sie streng. So wie die Bürokraten in der Regierung, die ihre Beschlüsse wie unlängst die Sparmassnahmen mit einer Alternativlosigkeit präsentieren, als handle es sich um heilige Gesetzestafeln, die ihnen von Moses persönlich in die Hände gedrückt worden wären.

Am Ende ihres Artikels schlägt Daria Wild die Unordnung als Reaktion auf dieses autoritäre Theater vor. Das erinnert mich an eine meiner Lieblingsstellen im Werk des grossen Schweizer Schriftstellers Markus Werner. Man müsse, heisst es dort, die Dinge immer mit den Augen eines Oberbefehlshabers sehen und anschliessend um hundertachtzig Grad anders bewerten. Das umgestülpte Werturteil sei dann das richtige. Also genau wie früher: Affenfangis statt Dauerlauf.

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