Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Autorin: Vanessa Buff
Donnerstag, 14. November 2024

Adliswil, im September

Vom Buffet im Migros-Restaurant steigt Dampf auf. Carla Maurer steht in der Schlange und bestellt Bratwurst mit Kartoffelgratin, dazu Gemüse. Um sie herum, zwischen Kassen, Korbstühlen und plastikverpackten Blumensträussen, bewegen sich Passanten auf rutschigen Sohlen. «Wenn es in London einmal so regnet, geht niemand freiwillig vor die Tür», sagt Maurer, als sie sich mit ihrem Tablett an den Tisch setzt.

Zwar sind Niederschläge in Grossbritannien bekanntlich nichts Aussergewöhnliches. Meistens niesle es aber bloss. Sie habe sich bei ihrer Ankunft in der Schweiz direkt eine Regenjacke kaufen müssen, sagt sie und deutet auf das Teil, das tropfend über der Stuhllehne hängt.

Es gibt gerade einige Dinge, auf die sich Carla Maurer neu einstellen muss. Funktionskleidung gehört dazu, aber auch Lastschriftverfahren («Das braucht ja eine Einwilligung der Bank!»), offene Turnhallen («für Engländer viel zu gefährlich») oder Twint («Was ist das?»). Auch sei ihr Sohn am ersten Schultag ohne Znüniböxli erschienen, weil man in England, wo die Schule erst nach 9 Uhr beginne, diese Mahlzeit gar nicht kenne. «Hoffentlich hat er jetzt kein Znünitrauma», sagt Maurer, halb lachend, halb irritiert.

Pfarrerin Carla Maurer CEO Swiss Church, London

Pfarrerin Carla Maurer sieht sich in London mit dem konfrontie...

Januar 2016
Anna Miller
Reto Camenisch

Maurer ist im August nach Adliswil gezogen. Die Gemeinde im Sihltal ist mit dem Zug von Zürich aus in zwanzig Minuten zu erreichen, ein Hügel trennt sie von der «Pfnüselküste», der westlichen Seite des Zürichsees. Zuvor lebte Maurer mit ihrem Mann und den beiden gemeinsamen Söhnen (sechs und zwei Jahre alt) in London und arbeitete als Pfarrerin an der Swiss Church. Diese ursprünglich reformierte Kirche wurde 1762 von Schweizer Auswanderern gegründet und ist heute weitgehend ökumenisch organisiert.

Als Pfarrerin war Maurer sowohl das Herz als auch das Hirn der Kirche. Sie feierte Gottesdienste, riss mit ihrem Team karitative Projekte an und suchte immer wieder nach neuen Geldquellen. Dabei schrak sie auch nicht davor zurück, die modern gestalteten Räumlichkeiten für Modeschauen oder Dinnerpartys zur Verfügung zu stellen.

Abgebildet auf dem Cover der ersten Ausgabe des Magazins bref überhaupt: Carla Maurer im Altarraum der Swiss Church in London. (Bild: Reto Camenisch)

«Zu Besuch in der Kirche der Zukunft», schrieb dieses Magazin 2016 in einem Porträt über die Swiss Church. Auf dem Cover der ersten bref-Ausgabe überhaupt: Carla Maurer, ganz in Schwarz, mit lässig überkreuzten Beinen im Altarraum der Kirche.

Die Zeit in London habe sie gelehrt, was alles möglich sei, wenn das Zusammenspiel zwischen Pfarramt, Team, Behörde und Gemeinde gut funktioniere, sagt Maurer. Sie habe aber auch gemerkt, wie wichtig «safe spaces» seien, für die Menschen auf der Strasse ebenso wie für sie als Pfarrerin. «Wir alle brauchen einen Ort, an dem wir angenommen sind und unsere Grenzen respektiert werden.» Diese Räume zu ermöglichen sei der Grundauftrag der Kirche – «gerade in Zeiten, in denen vieles prekär ist».

London, im Juli

Das London Eye, die Tower Bridge, der Big Ben – all diese berühmten Wahrzeichen sind vom Dach der Swiss Church aus nicht zu sehen. Stattdessen fällt der Blick auf Hinterhöfe, Mülltonnen und Reklameschilder. In der Luft liegt diese typisch britische Feuchtigkeit, die noch kein Regen, aber definitiv kein Nebel mehr ist. Dessen ungeachtet schiesst das Team der Kirche Selfies vor der glitschigen Balustrade, jemand macht Hasenohren hinter dem Kopf einer Kollegin.

Über drei Leitern im Innern der Kirche sind sie zuvor nach oben geklettert, eine weitere führt über den First auf die andere Seite des Gebäudes. «Ich war jetzt elf Jahre hier und habe es nie aufs Dach geschafft», sagt Carla Maurer. «Das musste einfach noch sein!»

Carla Maurer ist spontan, hat Ideen, manche davon recht ungewöhnlich. Dabei steckt sie andere an.

Es ist einer von Maurers letzten Arbeitstagen in London. Auf ihrem Mailaccount ist bereits eine «out of office»-Nachricht eingerichtet, und am Abend zuvor hat sie stundenlang Papier geschreddert. In einem Monat werden sie und ihr Mann ihre Sachen in einen Lastwagen packen und mit ihren Kindern ein Flugzeug nach Zürich besteigen. Zuvor stehen für Maurer eine letzte Teamsitzung sowie der Abschiedsgottesdienst samt Konfirmation an.

Die Episode mit dem Dach ist exemplarisch für die Art und Weise, wie Carla Maurer in der Swiss Church gearbeitet hat: Sie ist spontan, hat Ideen, manche davon recht ungewöhnlich. Dabei steckt sie andere an. Sie sei eine grossartige Leaderin, «but in a horizontal way», sagt eine Kollegin aus dem Team. Eine andere erzählt, wie sie und Maurer zusammen die Tate Modern besuchten, eines der renommiertesten Kunstmuseen Londons; beide hatten ihr neugeborenes Baby dabei. «Ohne Carla hätte ich mich das nie getraut.»

Ausser Maurer hat in der Swiss Church kaum jemand einen kirchlichen Hintergrund. Stattdessen kommt Know-how aus den verschiedensten Bereichen zusammen. Ein Beispiel dafür ist die Kunstausstellung mit Werken von obdachlosen Menschen, die das «Breakfast on the Steps» besuchen, das wöchentliche Frühstück für Armutsbetroffene.

«Manche denken, Kunst sei ein Luxus», sagt eine der Künstlerinnen, die für die Ausstellung zuständig sind. «Aber für die Menschen, die hier mitmachen, ist Kunst eine Notwendigkeit.» Die Stärke der Swiss Church – und von Carla Maurer, darin ist sich das Team einig – ist, solche Projekte wachsen zu lassen.

Es klingt, als geschehe es fast von allein. In Wahrheit ist das Pfarramt in London ein Knochenjob. Wer es innehat, ist Aushängeschild und spirituelles Zugpferd, Managerin und Seelsorgerin, diejenige, die alles zusammenhält. Manchmal sei sie in dieser Rolle einsam gewesen, sagt Carla Maurer. Gerade in theologischen Fragen habe ihr ein Sparringpartner gefehlt.

In der Kirchgemeinde Sihltal, zu der Adliswil gehört, wird das nun anders: Dort ist Maurer Teil eines sechsköpfigen Pfarrteams. «Darauf freue ich mich mega», sagt sie. Auch die Wohnsitzpflicht, die in der Schweiz mitunter kritisch diskutiert wird, ist für Maurer ein Pluspunkt. Nach den Jahren in London sei es für sie schön, am gleichen Ort zu leben wie die Menschen ihrer Gemeinde. «Ich werde mit jeder und jedem Kaffee trinken!», sagt sie und lacht.

Adliswil, im September

Das Licht im Sitzungszimmer unter dem Dach ist trüb, Teppichboden, alte Holzbalken und gepolsterte Stühle, in denen man tief versinkt. Nach dem Trubel im Migros-Restaurant ist es hier angenehm ruhig. Sie sei seit ihrem Stellenantritt jeden Tag im Kirchgemeindehaus gewesen, sagt Carla Maurer. Zu Hause sei sie noch nicht für die Arbeit eingerichtet, überall stünden Umzugskisten. «Obwohl – gestern habe ich endlich meinen Locher wiedergefunden. Und den Drucker!»

Es ist ein kleines Erfolgserlebnis in diesen ersten Wochen in der Schweiz, die vor allem aus Behördengängen, Administration und der Einschulung des älteren Sohnes bestanden. Sie hätten unterschätzt, wie viel Zeit und Raum all diese Dinge einnehmen würden, sagt Maurer. «Ein wenig wie bei einer Geburt: Man denkt nur bis dahin und vergisst, dass es danach erst richtig losgeht.» Für sie und ihren Mann sei wichtig gewesen, den Umzug für die Kinder gut zu gestalten; die eigenen Gefühle zu reflektieren, dafür habe bisher die Zeit gefehlt.

Konfirmiert wurde sie beim späteren Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist, «bekannt dafür, aufmüpfige und kritische Stimmen zu fördern», sagt Maurer. Und meint damit: Stimmen wie sie.

Auch in ihrer Kolumne für das «St. Galler Tagblatt», bei der sie sich mit drei weiteren Autorinnen abwechselt, schrieb sie Anfang September nicht über ihre persönlichen Eindrücke. Stattdessen griff sie ein innerkirchliches Thema auf: Soll der Gottesdienst am Sonntagmorgen abgeschafft werden? Carla Maurer findet: Bloss nicht! Das erstaunt – nicht nur, weil man «nach elf Jahren London doch eigentlich eine durch und durch hippe Pfarrerin mit topmodernen Ideen» erwarte, wie Maurer selber in der Kolumne schrieb. Sondern vor allem auch, wenn man ihren Hintergrund kennt.

Maurer ist in St. Gallen in einer gutbürgerlichen und eher kirchenfernen Familie aufgewachsen. Konfirmiert wurde sie beim späteren Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist, «bekannt dafür, aufmüpfige und kritische Stimmen zu fördern», sagt Maurer. Und meint damit: Stimmen wie sie. Doch obwohl ihr der Unterricht bei Sigrist gefiel, distanzierte sie sich danach wieder von der Kirche. Sie engagierte sich bei den Jungsozialisten, bei denen Religion verpönt war, wollte Schauspielerin werden. Nachdem es mit der entsprechenden Ausbildung nicht geklappt hatte, begann sie, Geschichte und Philosophie zu studieren.

«In die Theologie bin ich dann eher so reingerutscht», sagt Maurer. Sie habe sich für das Mittelalter interessiert und für «die existenziellen Fragen des Lebens». In der Philosophie wurden diese zwar erörtert, doch «es musste immer alles logisch sein, durchargumentiert». Es habe ihr gefehlt, ihre persönliche Meinung einbringen zu können, ihre Sicht auf die Welt. «Heute würde ich sagen: meinen Gottesbegriff.»

Carla Maurer ist traditionell in der Form, aber progressiv im Inhalt.

Auch nach dem Studium verlief ihr Weg nicht geradlinig: Sie arbeitete im Journalismus, machte Musik, nahm sogar eine CD auf. Später ging sie für eine Stelle bei der Konferenz Europäischer Kirchen nach Strassburg. In dieser Zeit lernte sie auf einem Kurztrip in die britische Hauptstadt in einem Pub ihren späteren Mann kennen. Um mit ihm leben zu können, suchte sie Arbeit in London. Und fand sie – wiederum mit einer Zwischenstation – bei der Swiss Church.

Carla Maurer ist traditionell in der Form, aber progressiv im Inhalt. Sie ist ein Fan der klassischen Liturgie. Gottesdienste mit Jazzelementen oder digitalen Gadgets findet sie zwar toll, würde sie selber aber nicht von sich aus initiieren. Gleichzeitig thematisiert sie soziale Missstände und feministische Anliegen.

Das Wort «Herr» benutzt sie kaum, beim Segen wechselt sie zwischen männlichen und weiblichen Pronomen. Und Eva ist für sie nicht die grosse Sünderin, sondern eine emanzipierte Frau, die eine bewusste Entscheidung getroffen hat: Sie ass vom Baum der Erkenntnis und wählte damit das Wissen – statt das Leben im Paradies. Diese Interpretation ist Maurer so wichtig, dass sie sie ins Zentrum ihrer letzten Predigt in London gestellt hat.

London, im Juli

Die Tische im vietnamesischen Restaurant sind voll besetzt. Ständig kommen neue Gäste, werden vom Kellner vertröstet, gehen zum Warten nach draussen, auf die Strassen von Soho. In diesem Stadtviertel Londons wechseln sich Bio-Cafés und Queerbars ab, Theater und Pubs, kleine Modegeschäfte und angesagte Restaurants. Der bekannte Covent Garden liegt gleich um die Ecke, ebenso die Swiss Church.

Carla Maurer und Manuel Zimmermann Grey sitzen bei der Tür. Zimmermann Grey wird das Pfarramt von Maurer übernehmen, bis der offizielle Prozess zur Neubesetzung der Stelle abgeschlossen ist. Weil Anstellungen von Ausländern seit dem Brexit um ein Vielfaches komplizierter geworden sind, rechnet die Swiss Church dafür mit mehreren Monaten. Der Berner Pfarrer dagegen hat den Vorteil, dass er mit einer Britin verheiratet ist und seit November 2023 mehrheitlich in London lebt.

Hin und her

Mit einem Koffer in der Hand und der grossen Liebe im Herzen z...

Juni 2024
Heinz Zürcher
Marlena Waldthausen

Während Maurers letzten Arbeitstagen nutzt Zimmermann Grey die Gelegenheit, schon einmal in die Swiss Church reinzuschnuppern. Bei Glasnudeln, frittierten Tintenfischchen und Fried Rice reden die beiden über den neuen Webauftritt der Kirche, über die Möbel im Londoner Pfarrhaus, in das Zimmermann Grey und seine Familie ziehen werden. Dann wird es Zeit zu gehen. Im Büro der Swiss Church wartet noch Arbeit – und Papier, das geschreddert werden will.

Über die Frage, was sie an ihrem Leben hier am meisten vermissen wird, muss Carla Maurer kurz nachdenken. Dann beginnt sie aufzuzählen: «Pubs. Spielplätze mit ordentlichen Cafés und Toiletten. Dass Diversität zelebriert und nicht bloss toleriert wird. Und den Smalltalk – das können Schweizer einfach nicht!»

Adliswil, im September

Der Nachmittag neigt sich dem Ende zu, Carla Maurer tritt aus dem dämmrigen Kirchgemeindehaus an die kühle Luft. Wasser tropft von Büschen und Bäumen, direkt vor dem Gebäude fliesst die Sihl. «Schon ein anderer ‹vibe› hier als in Soho», sagt sie und wirkt mit einem Mal ein wenig nachdenklich.

Nach elf Jahren bei der Swiss Church wurde es für Maurer Zeit für etwas Neues. Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Kirche gab es für sie nicht, und ausserhalb wären ein neues Arbeitsfeld und die wirtschaftlich angespannte Lage zur Herausforderung geworden. Also entschied sich die Familie zum Umzug in die Schweiz.

In der Nähe von Zürich sollte das neue Zuhause sein, aber die 2019 gegründete Kirchgemeinde an der Limmat mit ihrer Grösse und den noch immer neuen Strukturen empfand Maurer als zu steilen Wechsel. So fiel die Wahl auf Adliswil. «Die Pfarrwahlkommission und das Team haben es meiner Familie und mir auch wirklich leichtgemacht, uns für das Sihltal zu entscheiden. Die Herzlichkeit war bei jedem Schritt spürbar.»

«In London war ich von der Stadt oft gestresst», sagt Carla Maurer: «Hier laufe ich zehn Minuten der Sihl entlang und hole meine Kinder aus der Kita. Das ist einfach toll.»

Zwar bezeichnet Maurer das Sihltal immer mal wieder scherzhaft als «Greater Zurich Area». Aber die kurze Distanz zur Stadt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gegend eher ländlich als urban geprägt ist. Das sei gerade für ihren Mann – Musikproduzent und ein waschechter Londoner – nicht einfach, verrät Maurer.

Bemüht um Anschluss, würden sie in der Gemeinde so viele Veranstaltungen wie möglich besuchen – vom Cricketmatch bis zur Eröffnung des Familienzentrums. Später wird sie darüber ihre Kolumne schreiben. Der Titel: «Um Himmels willen, Schweiz, redet miteinander!»

Doch für den Moment blickt Carla Maurer flussabwärts und lächelt. «In London war ich von der Stadt oft gestresst. Hier komme ich von der Arbeit ins Grüne. Ich laufe zehn Minuten der Sihl entlang und hole meine Kinder aus der Kita. Das ist einfach toll.» Sie zieht sich die Kapuze ihrer Funktionsjacke über den Kopf und tritt hinaus in den Regen.