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Bis bald

Die Welt ist voller Menschen. Doch keiner redet mehr mit dem anderen, stellt unser Kolumnist fest.
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Autor: Lukas Linder
Freitag, 12. April 2024

Mit wem rede ich eigentlich noch? Mal abgesehen von meiner Frau, meinem Sohn und diesem schlecht gelaunten Typen, den ich jeden Morgen im Spiegel sehe? Habe ich überhaupt noch etwas Neues zu sagen oder bin ich schon in jenem Alter, wo man sich nur noch selber zitiert? Um das herauszufinden, müsste ich mal wieder mit jemandem reden. Aber mit wem? Schwer ist es ja eigentlich nicht. Die Welt ist voller Menschen, acht Milliarden sind es derzeit ungefähr, man geht nur meistens aneinander vorbei oder vertröstet sich auf später.

Während meiner Studienzeit war ein gutes Gespräch daran zu erkennen, dass mir ein Wesen aus Fleisch und Blut gegenübersass, das mindestens so betrunken war wie ich. Die meisten Gespräche, die ich heute führe, bestehen darin, mich für ein anderes Mal zu verabreden. Der Moment ist irgendwie immer falsch. Später ist immer besser.

«Bis bald» ist der Slogan der Zeit. Er drückt die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen unter idealeren Umständen aus: wenn man gesunder ist, weniger Stress auf der Arbeit hat, wenn der Winter endlich vorüber ist und es nicht mehr so heiss ist, wenn die Kinder aus der Schule sind, dieser schreckliche Krieg zu Ende ist und die Wissenschaft ein Mittel gegen Krankheit und Tod erfunden hat.

Die echte Begegnung mit einem anderen Menschen ist zu einem mystischen Ereignis geworden, um das herum eine so grosse Erwartungskulisse gebaut wird, dass man es kaum noch zu erleben wagt. Was ist, wenn wir uns nichts zu sagen haben? Wenn das Essen schlecht ist, der Wein sauer und der andere wieder nur von seinen Marathonvorbereitungen erzählt? Sowieso habe ich gar keine Lust, aus dem Haus zu gehen. Daheim in meiner Lieblingstrainerhose ist es doch viel gemütlicher.

«Nur der Einsame ist böse», soll der französische Aufklärer Denis Diderot einmal gesagt haben. Sind wir also alle böse geworden? Vielleicht. Vor allem aber sind wir Menschen unglaublich faul, und die technologischen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte kommen uns dabei sehr entgegen.

Es heisst, während der Pandemie hätten wir unseren Hang zur Einsamkeit entdeckt. Tatsächlich haben wir in dieser Zeit dank Zoom und Home-Office gelernt, dass wir gar nicht am Leben teilnehmen müssen, um am Leben teilnehmen zu können: Ich kann das ganze Jahr zu Hause bleiben und verpasse weder das Film-Highlight des Jahres noch die fermentierte Gourmetpizza von Luigi, die mir der Kurier bis zur Tür bringt. Und Menschen? Nun ja, die sind mir schon immer auf die Nerven gegangen.

Was passiert, wenn man Kommunikation und soziales Beisammensein in eine digitale Parallelwelt verlagert, hat der Journalist Francesco Giammarco neulich in der «ZEIT» beschrieben. Ihm ist aufgefallen, dass alle die ganze Zeit E-Mails bekommen, aber niemand mehr welche schreibt: «Was immer E-Mails einmal waren – eine Verbindung zu weitentfernten Verwandten, eine Möglichkeit, die Menschheit zu connecten, eine Revolution der Arbeitswelt – die E-Mails von heute haben damit nichts zu tun.»

All diese Benachrichtigungen über gelieferte Pizzas, abgeschlossene Transaktionen und Anmeldungen auf neuen Geräten, die wir heute hauptsächlich bekommen, sind nichts als eine grosse Illusion, die unserer Selbstbestätigung dient. Wir glauben, wir würden uns mit der Welt austauschen, tatsächlich haben wir die ganze Zeit nur mit uns selber gesprochen.

Im Grunde ist das eine gute Nachricht. Die Technik ist eben kein Ersatz. Das heisst, wenn ich wieder mal mit jemandem ein Gespräch führen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als trotz Welt und Wetter und diesem Kratzen, das ich seit einer halben Stunde im Hals verspüre, meine Trainerhose gegen ein frischeres Modell zu tauschen und rauszugehen – in die echte Wirklichkeit.

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