Überschätzt – Unterschätzt

Gemeindegesang

Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Freitag, 02. Februar 2024

«Ein bisschen schief, hat Gott lieb», heisst es in einem plattdeutschen Sprichwort. Für ausgebildete Organistinnen und ambitionierte Chorleiter ist der Satz alles andere als stimmig. Wer womöglich das Ziel hat, ein Oratorium aufzuführen, das professionellen Ansprüchen genügt, kann mit den brüchigen Stimmen altgedienter Chormitglieder sicher nichts anfangen. Aber kann es beim Singen in der Kirche wirklich um Ausgrenzung gehen? Soll Leistungsdruck über gemeinschaftlicher Erfahrung stehen?

Während die Kirchenkonzerte immer professioneller werden, wird der Gemeindegesang ästhetisch eher geringgeschätzt. Dabei ist das Schöne, das Freie an ihm doch, dass es nicht darum geht, ob jede Note sitzt. Er bietet seit langem das, was heute in den Kirchen immer wieder so mühselig konzipiert sein will: Interaktion. Und das bedeutet hier das Eingebundensein in die Liturgie. Wer will, nimmt teil und stimmt mit ein. Wenn sich die Kirchenmitglieder dann zu einem einzigen Klangkörper verschmelzen, lässt sich schon etwas von der jubilierenden Erhabenheit erfahren, die Johann Sebastian Bach mit seinen Werken auf ungeahnte Höhen trieb. Die Bedeutung von «Einklang» und «Harmonie» reicht für evangelische Christen weit über die musikalische Sphäre hinaus.

Vor genau 500 Jahren, um die Jahreswende zwischen 1523 und 1524, kam Martin Luther auf die Idee, Psalmen zu geistlichen Liedern umzudichten. Er war überzeugt, dass der Teufel Musik hasst, weil sie Anfechtungen und böse Geister vertreibe. Die Schweizer Reformatoren zogen allmählich nach. Calvins Genfer Psalter wurde dann mindestens so ein nachgefragter Exportartikel wie später die Uhren und Taschenmesser. Die Zürcher Reformatoren verbannten anfänglich spröde Gesang und Orgelspiel aus dem Gottesdienst, hoben aber 1598 das Edikt auf. Mit seinen mehrstimmigen Liedern schuf der Schweizer Gemeindegesang seine wunderbaren eigenen Blüten.

Diese kollektive Erfahrung des Singens bedeutet Partizipation. Nirgends erfährt man soziales Miteinander und spirituelles Gemeinschaftserleben so stark wie beim gemeinsamen Absingen von Liedern. Dass es auch politische Wirkung entfaltet, zeigt sich im Gospelsong «We shall overcome», der in den Bürgerrechtsbewegungen oft dann angestimmt wird, wenn die Bedrängnis am grössten ist.

Seine Liedkultur zählt für mich zu den schönsten Errungenschaften des Protestantismus, auch und gerade dann, wenn Text-, Ton- und Treffsicherheit oft schwanken. Das Schiff, das sich Gemeinde nennt, schwankt ja schliesslich auch und hält dennoch den Kurs.

  • Bitte aufräumen

    N° 1/2024

    CHF14.00 inkl. 2.6% MwSt.
    In den Warenkorb