
Auch das noch. Pünktlich zur Jahreswende las ich in der «ZEIT» mein eigenes Todesurteil: «Hypochonder sterben früher». So sollen Menschen, die in permanenter Angst vor schweren Krankheiten leben, ein grösseres Risiko aufweisen, an solchen zu erkranken. Der Stress, die andauernde psychische Belastung, das viele Herumsitzen in schlecht belüfteten Wartezimmern – das alles führt dazu, dass Hypochonder früher als andere das Zeitliche segnen. So jedenfalls hat es laut der «ZEIT» eine grosse schwedische Studie ergeben, die im Fachblatt «JAMA Psychiatry» veröffentlicht wurde.
Na wunderbar, denke ich. All die Jahre hat mein einziger Trost darin bestanden, dass ich es länger als die anderen machen werde. Das ewige Leben zum Preis ewiger Angst und Nervosität? Deal! Und auf einmal soll das Gegenteil zutreffen? Was fällt diesen Schweden eigentlich ein!
Obwohl, wirklich überrascht bin ich nicht. Denn dass diese Ängste nicht sehr gesund sein können, dachte ich schon häufig, wenn ich mal wieder stundenlang Symptome googelte oder mitten auf der Strasse stehen blieb, weil ich mir noch einmal das Foto von diesem malignen Melanom ansehen musste. Die Studie bestätigt also nur, was ich immer schon geahnt habe: Hypochondrie ist keine Angst vor der Krankheit, sie ist die Krankheit selbst.
Angefangen hat alles mit Herrn Blunschi. Er war der Schularzt an unserem Gymnasium. Eines Tages sollte sich unsere Klasse bei ihm untersuchen lassen. Als ich an der Reihe war, brach mir plötzlich der Schweiss aus. Mein Herz raste. Blunschi nahm mir den Blutdruck. Er war viel zu hoch. «Das ist nicht gut», erklärte Blunschi und sah mich streng an. «Unbehandelt kann hoher Blutdruck Infarkte, Schlaganfälle und andere Probleme auslösen. Legen Sie sich hin und entspannen Sie sich. In fünf Minuten messen wir noch einmal.» Fünf Minuten später war mein Blutdruck nicht mehr messbar.
Später hatte ich einen Hausarzt, der den Fehler machte, mir seine private E-Mail-Adresse zu verraten, was für Hypochonder so etwas wie eine goldene Kreditkarte ist: Diagnosen ohne Untersuchungen! Das ist eine wichtige Unterscheidung, auf die auch der «ZEIT»-Artikel zu sprechen kommt: Es gibt die richtigen Hypochonder, und es gibt die Alltagshypochonder. Letztere sind im Grunde einfach sehr vernünftige Menschen, die auf ihren Körper hören und bei der kleinsten Veränderung den Arzt aufsuchen. Der richtige Hypochonder hingegen ist ganz und gar nicht vernünftig. Wenn er auf seinen Körper hört, bemerkt er Veränderungen, noch bevor sie stattgefunden haben. Darum geht er auch nicht zum Arzt.
Hilfe sucht er an einem Ort, wo er sich mit seinen virtuellen Symptomen besser aufgehoben fühlt: im Internet. Auf Seiten wie «Netdoktor», «Onmeda» oder «med2-forum» kann sich der richtige Hypochonder mit Gleichgesinnten austauschen. Dazwischen tummeln sich ein paar echte Ärzte. Man erkennt sie daran, dass sie auf ihrem Profilbild einen weissen Kittel tragen. Möglicherweise sind sie genauso virtuell wie die Symptome. Sowieso ist auf diesen Seiten jeder ein Experte, der mit Fachwörtern nur so um sich wirft und die Symptome der anderen unerbittlich zu deuten weiss: «Ich denke, du hast Zahnschmerzen. Meine Mutter hatte das auch. Zwei Wochen später war sie tot.» Da diese Experten mindestens genauso paranoid sind wie man selbst, sind ihre Ratschläge ein bisschen so, wie wenn ein Drogensüchtiger einen Entzug bei einem Junkie macht.
Ich habe meiner Frau darum versprochen, dass ich nicht mehr auf diese Seiten gehen werde. Denn tatsächlich ist es so: Hypochondrie ist eine Sucht, die schlimmer wird, je mehr man sich mit ihr beschäftigt. Der gute Blunschi mag vielleicht kein raffinierter Psychologe gewesen sein, schuld an meiner Krankheit ist er aber nicht. Vieles an der Hypochondrie ist angeboren. Pech gehabt. So wie die Freiheit in der Fähigkeit besteht, die eigene Unfreiheit zu erkennen, versuche ich denn einfach, meine Gedanken um andere Themen kreisen zu lassen, die vielleicht ein bisschen sinnvoller sind: Gartenbau, Politik, meine Familie. Und die Ängste verschwinden am Horizont oder zumindest hinter der nächsten Ecke. Zumal ich nun weiss, dass mir kein ewiges Leben als Trostpreis winkt.