Linder liest

Für immer die Menschen

Unser Kolumnist hat gelesen, dass die Menschen bald 150 Jahre und älter werden können. Er findet das nicht nur toll.
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Autor: Lukas Linder
Illustration: Sören Kunz
Freitag, 15. Dezember 2023

Immer in der Weihnachtszeit fällt mir auf, dass es kaum noch junge Leute gibt. Wo sind sie hin? Wegrationalisiert worden? Oder sind sie alle mit Umweltschützer Max Voegtli in Mexiko und demonstrieren gegen den Klimawandel?

Vielleicht liegt es auch nur an mir und meiner Familie. Seit gefühlten Jahrzehnten werden wir immer älter, ohne dass frische Kräfte nachrücken würden. Lange waren ich und meine Brüder die Kinder, doch seit wir der Mode unseres Vaters gefolgt und mit Mitte 30 komplett ergraut sind, fühlt sich diese Bezeichnung irgendwie verlogen an. Kinder haben keine grauen Haare. Und Kinder haben keine Kinder. Vor drei Jahren ist mein Sohn auf die Welt gekommen. Doch gehen seine Wutanfälle im hypochondrischen Jammern seiner vergreisten Verwandten vollkommen unter. Sie wiederum betrachten meinen lustigen Sohn wie einen abstrusen Besucher aus einer längst vergangenen Zeit, einer Zeit, als die Menschen noch Kinder hatten und an die Zukunft glaubten.

Heute bekommen die Menschen statt Kinder graue Haare. Kinder sind so out wie die Zukunft. Stattdessen kuscheln sich alle in der Gegenwart zusammen und hoffen, dass die Zeit an ihnen vorüberstreicht. Und sie haben recht. Man braucht bloss die Zeitung aufzuschlagen, um zu sehen, dass sich die Zukunft nicht lohnt. Kriege. Klimaerwärmung. Pandemien. Die Zukunft macht vor allem mit Negativschlagzeilen von sich reden.

Ich war darum vollkommen fassungslos, als ich hörte, dass mein mittlerer Bruder ein Haus baut, in dem es mehrere Kinderzimmer geben soll. «Bist du verrückt geworden?» schrie ich ihn am Telefon an. «Ein Haus? Mehrere Kinder?» Was früher als Ausdruck von bürgerlicher Spiessigkeit galt, mutet heute fast schon subversiv an: Da schert einer aus der ewigen Gegenwart, zu der wir uns alle verdonnert haben, aus und baut wagemutig in die Zukunft hinein. Mein Bruder hat schon damals beim Monopoly ganze Strassen mit seinen Häusern verbaut, während ich noch im Gefängnis sass.

Und doch frage ich mich, ob der ganze Aufwand nötig ist. Ich rede jetzt von Kindern, die man doch immer auch bekommt, um den eigenen Alterungsprozess aufzuhalten. So war neulich in der «ZEIT» zu lesen, dass Forscher der Anti-Aging-Industrie mit der Unterstützung von Milliardensummen daran arbeiten, die Kontrolle über unsere Alterung zu erringen, auf dass wir künftig markant länger leben, ohne die typischen Gebrechen, die das Alter mit sich bringt, zu erleiden. Laut den Wissenschaftlern ist es vorstellbar, dass die Menschen bald 150 Jahre und älter werden. 150 Jahre. Bei dieser Lebensdauer ist die berühmte zweite Chance weniger ein Akt der Gönnerhaftigkeit denn der Vergesslichkeit: war da mal was?

Interessant ist auch, dass sich die Forscher offenbar nicht dafür interessieren, die verhältnismässig kurze Zeit der Kindheit zu verlängern. Nein, es geht um die zähen Jahre des Erwachsenenlebens zwischen 20 und 148. Wie der Autor des Artikels schreibt, werden wir künftig mehrmals studieren, zahlreiche Berufe ausüben und mit verschiedenen Personen ganze Beziehungszyklen durchleben. Na toll. Es gibt zwar durchaus positive Aspekte. So gäbe es sicher weniger Schwerverbrechen, da «lebenslänglich» endlich das drakonische Urteil darstellte, das man sich immer gewünscht hatte. Und natürlich ist die Vorstellung verlockend, mit 80 Jahren noch eine Karriere als Profi-Tennisspieler zu beginnen.

Aber: Will ich wirklich 130 Jahre lang den Müll hinunterbringen und Belege für die Steuererklärung sammeln? Im Frühling Spargeln essen und im Herbst Kürbissuppe? Natürlich kann man auswandern, doch gewisse Dinge wird man nie los. Sich selber, zum Beispiel. Will ich wirklich 150 Jahre mit mir verbringen? Und: Will ich mich wirklich so lange Zeit meinen Mitmenschen zumuten? Wollen Sie wirklich für die nächsten, sagen wir, 100 Jahre meine Kolumne lesen? Ich kann Sie beruhigen. Fürs erste müssen Sie es nur ein weiteres Jahr. Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!

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