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Autorin: Nadja Boeck
Illustration: Julia Kluge
Freitag, 15. Dezember 2023

Der Kinderarzt meiner Tochter war nach einer steilen Karriere in einem Burnout gelandet und hatte dann seinen Chefarztposten sausen lassen. Etwa einen Monat nach der Geburt sagte er zu mir: «Wir Menschen in Berufen, die anderen helfen, haben immer solche Mühe, selbst nach Hilfe zu fragen, wenn es uns nicht gut geht.»

Tatsächlich dauerte es noch ein paar Monate, bis ich nach Hilfe fragte wegen postnatalen Depressionen. Bis ich nach Hilfe fragte im Pfarramt, weil ich ständig überlastet war – hatte ich das überhaupt schon einmal?

Dabei sollten doch besonders wir Pfarrerinnen wissen, was Selbstfürsorge ist. Zumindest wenn es um andere geht, ist es uns klar. Wir predigen vom Dreifach-Gebot der Liebe, in dem deutlich steht: Gott lieben, die Nächsten und sich selbst. Für die Nächsten sorgen wir mit Hingabe. Gott lieben wir von Berufs wegen, vielleicht mal mehr, mal weniger. Aber uns selbst lieben? Das geht häufig vergessen. Zumindest merke ich immer wieder, dass ich alles andere über meine eigenen Bedürfnisse stelle. Ein schwieriger Seelsorgefall, ja, der muss unbedingt noch in diese Woche passen. Wieder nicht rechtzeitig geschafft, die Trauernachbesuche zu machen, mich martert das schlechte Gewissen. Noch eine super Idee, was wir für junge Mütter anbieten könnten – das müssen wir sofort aufgleisen.

Ich bin ganz ehrlich: Ich bin ein schlechtes Vorbild für das Thema Selbstfürsorge und Selbstliebe. Auch meine Vikarin liess ich im Regen stehen, als sie mich fragte: «Wie machst du das mit deiner Work-Life-Balance?» Ich wusste nicht so viel zu sagen. Ratgeber zum Thema gäbe es genügend. Ich habe noch nie einen gelesen. Aber aus meiner persönlichen Erfahrung möchte ich ein paar Gedanken weitergeben.

1. Prioritäten setzen

«Mein Vater war immer für alle da, nur nicht für mich»: Diesen Satz habe ich im Text einer Pfarrerstochter gelesen, die in einem reformierten Pfarrhaus aufgewachsen ist. Ich möchte auf gar keinen Fall, dass meine Tochter das einmal über mich sagt. Meine Tochter hat Vorrang. Wenn es ihr gut geht, kann ich immer noch die Welt retten. Wir essen, mit wenigen Ausnahmen, morgens, mittags und abends zusammen. Es bleibt Zeit, über den Tag und die Erlebnisse zu sprechen. Unser Abendritual ist uns heilig – bis meine Tochter findet, dass sie zu gross dafür ist.

2. Mal nicht über Kirche sprechen

Es ist eine Abmachung zwischen meinem Mann und mir. Meist bleibt sie unausgesprochen, aber wenn es sein muss, sagen wir sie uns auch einmal laut: In den Ferien oder am freien Wochenende reden wir nicht über Kirche und Kirchgemeinde. Zwei Menschen, die in ihrem kirchlichen Engagement aufgehen, können davon aufgefressen werden. Es braucht freie Zeit, damit neue kreative Ideen entstehen können. Manchmal schreiben wir dafür nachts Projektpläne, wenn die Ideen dann kommen.

3. Einfach mal nix sagen

Wer setzt den tollen Vorschlag einer Kollegin in die Tat um? Ich bin nicht mehr die erste, die sich meldet. Das fällt mir manchmal schwer. Es hilft, einen Zettel vor sich hinzulegen mit der Aufschrift: «Nicht antworten». So komme ich nicht mehr ganz so schnell in Gefahr, dass alles bei mir landet. Oder dass mir vielleicht sogar vorgeworfen wird, ich würde alles an mich reissen.

4. Nachts Sorgen wälzen

Schwierige Sitzungen am Abend, Sparpläne, Konflikte – manchmal gehen sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Mein Partner und ich haben abgemacht, uns aufzuwecken, wenn uns Sorgen nicht schlafen lassen. Meistens haben diese etwas mit unseren Berufen zu tun. Wälzen wir die Sorgen gemeinsam, sind sie oft gleich weniger schwer. Die Nacht ist dann zwar kurz, aber wenigstens kann ich danach ein wenig schlafen. Ausserdem weiss ich inzwischen: Auch nach einer kurzen Nacht geht der Tag irgendwann vorbei.

5. Nicht allein bleiben

Ich liebe meinen Beruf. Das Pfarramt nimmt aber viel Raum ein. Es ist nie alles erledigt, es gibt immer noch etwas zu tun. Es bleibt selten Zeit, meinen Freundinnen zu erzählen, wie es mir geht. Dabei wäre das wichtig. Trefft euch mit Freunden und tauscht euch darüber aus, wie es euch geht – auch unter Arbeitskollegen. Ich habe immer wieder Personen erlebt, die beruflich als Einzelkämpfer unterwegs sind. Gute Teamintervision ist hilfreich.

6. Wehrt euch

Besonders für Frauen gibt es eine Systemfalle: Uns wird die ganze Care-Arbeit zugesprochen. Gleichzeitig wird uns vorgehalten, wir müssten halt einfach Nein sagen. Das haben wir oft gar nicht gelernt. Hier hilft nur: Nicht immer nett sein, denn das ist nicht unsere Aufgabe. Auch Jesus war nicht immer nett, sondern herausfordernd, manchmal störend, manchmal provokativ. Daran sollten wir uns orientieren.

7. Erlaubt euch Nichtstun

Drei Wochen am Strand, und der längste Weg war der zum Eisstand. Das hat meiner Seele echte Ruhe gebracht. Wir müssen in den Ferien keine Erwartungen erfüllen. Es reicht, wenn unsere Kids happy sind. Meine Tochter braucht nichts Exotisches, sondern nur Wasser und möglichst ein anderes Kind, das ebenso gern schwimmt wie sie. Übrigens: Es ist kein Wettbewerb, wer die aufregenderen Ferien hatte.

8. Geräte ausschalten

Auch von Amtes wegen bin ich in den sozialen Netzwerken aktiv. Da das Netz grundsätzlich grenzenlos ist, ist es der Druck, mitzuhalten, auch. Habe ich wirklich die drei Posts auf Instagram abgesetzt, die es braucht, damit der Algorithmus mich nicht benachteiligt? Habe ich irgendetwas Heikles im Reel, das einen Shitstorm auslösen könnte? Wieso gibt es nicht mehr Likes? Diesem Druck nicht zu unterliegen ist ganz schön schwer. Aber wir können vielen Menschen Vorbild sein, wenn wir zeigen: Wir sind auch mal offline. Ausserdem tut es gut. Ich habe mir geschworen, mich nicht vom Algorithmus bestimmen zu lassen.

9. Beten

Mich ins Gebet zu vertiefen hilft mir. Sollte eigentlich klar sein, aber ist es doch nicht. Es geht immer wieder vergessen. Eine Supervisorin sagte zu meiner Vikarin, als es um Zeitmanagement ging: «Du darfst jeden Tag deine Gebetszeit als Arbeitszeit rechnen. Ist doch dein Job zu beten.» Da habe ich gelernt, noch viel bewusster im Gebet abzulegen, was schwer gewesen ist in einer Woche, zu danken für alle guten Momente oder auch mit Gott zu fighten, warum jetzt wieder so furchtbare Dinge geschehen. Ganz besonders schön finde ich es, eine Kollegin zu haben, mit der die Vertrauensbasis da ist, gemeinsam zu beten. Das ist kraftvoll.

10. Hemmungsloser «Ideenklau»

Nein, es geht hier nicht um Plagiat. Aber es gibt so viele gute Projekte, Ideen, Texte, dass ich nicht jedes Rad neu erfinden muss. Meistens übernehme ich wenig eins zu eins, sondern passe es an meine Sprache an. Vor allem im Advent hilft mir das sehr. Es ist eine Zeit, in der die Kreativität im Pfarramt aufs höchste gefordert ist und doch jedes Jahr dasselbe Thema ansteht. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, den «anderen Advent» zur Hilfe zu nehmen. Dieser Adventskalender hat es mit seinen Texten immer geschafft, dass ich für Familienweihnacht, Christnacht und Weihnachtsgottesdienst ein Thema gefunden habe und manchmal gleich noch eines für Silvester. Auch im Internet finde ich passende Vorschläge. Das Netz ist dazu gedacht, unsere Arbeit zu unterstützen.

Im Pfarramt müssen wir für andere da sein. Gerade deshalb ist es wichtig, uns selbst nicht zu vergessen. Ja, uns vielleicht sogar an erste Stelle zu setzen. Der französische Mystiker Bernhard von Clairvaux bringt das so auf den Punkt: «Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale, nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Zuerst anfüllen und dann ausgiessen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich.»

Wenn nun alle guten Ratschläge wieder einmal nicht funktionieren? Bei mir könnte das schon morgen der Fall sein. Dann denke ich zurück an eine junge Frau. Ich bat die Konfirmandin, einen christlichen Wert zu notieren. Sie hat mir, ob aus Unwissenheit oder mit Absicht, eine «goldene Regel» aufgeschrieben. Auf dem Zettel stand: «Behandle dich selbst so, wie du von anderen behandelt werden möchtest.»