Es heisst, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Doch das Leben kann nichts dafür. Es sind die Menschen, die bestrafen.
In der griechischen Hafenstadt Piräus wurde vor ein paar Wochen ein Mann von den Besatzungsmitgliedern an der Mitfahrt auf einer Fähre gehindert, da er zu spät auf die Laderampe gesprungen war. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem der Mann ins Hafenbecken fiel. Videoaufnahmen zeigen, wie er im Wasser verschwindet, während ein Crewmitglied scheinbar unbeteiligt dabei zusieht. «Er sah zu, als ob ein Ball ins Wasser gefallen wäre», sagte ein Passagier gegenüber den griechischen Medien.
Der Ball, der gerade noch ein Mensch gewesen war, hiess Antonis Karyotis und war ein 36jähriger Grieche mit Autismus. Später schrieb der griechische Minister für Handelsschifffahrt auf der Plattform X: «Heute gibt es die, die um den Mann, der getötet wurde, trauern, und es gibt die, die um diejenigen trauern, die ihren Job gemacht haben, um Lohn zu verdienen, und sich nun auf der Anklagebank wiederfinden.»
Es gibt die Grausamkeit, die aus einem Menschen einen Ball macht. Und es gibt die Grausamkeit, die diese Behandlung als notwendigen Teil der Arbeit ansieht. Die erste könnte man archaisch nennen, obwohl sie ganz und gar nicht veraltet ist. Man findet sie an den Massengräbern von Butscha und Isjum. Oder in der saudischen Wüste, wo der Grenzschutz zwischen März und Juni Hunderte Migranten erschossen hat.
Die zweite Grausamkeit trägt einen Anzug und meldet sich in den sozialen Netzwerken zu Wort. Sie ist die Grausamkeit unserer Zeit: Für jede noch so barbarische Tat findet sie einen rationalen Grund. Man erinnere sich etwa daran, wie, nachdem die Russen in der Ukraine einmarschiert waren, die «Weltwoche» den Krieg als direkte Antwort auf den kranken Westen bezeichnete, der sich nur noch mit «Gender-Wahn, Cancel Culture und Öko-Fetisch» beschäftige. Nach dem Motto: Hätten wir uns nicht mit Unisex-Toiletten aufgehalten, wäre es nie zu diesem Krieg gekommen. Bisweilen wirkt es gar so, als warteten all diese Kommentatoren nur darauf, ein besonders schlagendes Argument in die Hand zu bekommen, um endlich auf der ganzen Linie recht zu haben. Und es gibt kein schlagenderes Argument als Krieg.
Gleichzeitig sollten sich diese Kommentatoren bewusst sein, was sie in die Waagschale werfen und was sie dabei auch verlieren können. Im Falle des griechischen Ministers, der eine Woche später zurücktreten musste, ist die Sache schiefgelaufen. In seinem Tweet beschwor er das Bild des Malochers, der «nur seinen Job» macht. Die aus dem Englisch stammende Formulierung impliziert eine demütige Haltung, deren Verantwortung sich in der reinen Ausführung erfüllt. Wehmütig erscheint der Blick auf den ehrbaren Malocher in einer Zeit, da sich unsere Vorstellung von Arbeit radikal verändert.
Überall wird derzeit heftig darüber debattiert, wie viel wir noch arbeiten sollen. Und während hierzulande Gewerkschaften eine Reduzierung der Arbeitszeit verlangen, fordern rechtskonservative Kreise, dass man endlich wieder härter arbeite, wie das der Deutsche-Bank-Chef Christian Seewing neulich in der «NZZ» getan hat. Auch hier erscheint der Malocher als Gegenfigur zum empfindsamen Faulenzer, der auf seiner Unisex-Toilette hockt, bevor er zu seinem Vegi-Schnitzel zurückkehrt.
In allen diesen Äusserungen, vom Schifffahrtsminister über die «Weltwoche» bis zum Deutsche-Bank-Chef, findet man denselben Grundgedanken: Moral ist Sand im Getriebe der Gesellschaft. Wer ihr nachgibt, verdient keinen Lohn, zahlt keine Steuern. Er verweichlicht, wird schwach und kann sich nicht mehr zur Wehr setzen, wenn der Feind angelaufen kommt. Dagegen steht der Romantizismus des ehrbaren Arbeiters, der bis zum Umfallen schuftet und keine Fragen stellt, komme, was wolle, ob Mensch oder Ball.
Warum aber hat die Argumentation des griechischen Ministers nicht verfangen? Schliesslich war der 36jährige Mann weiss Gott nicht der erste, den man dieser Tage sehenden Auges im Mittelmeer ertrinken liess. Die Antwort ist ganz einfach: In seiner Tasche fand man ein gültiges Ticket.