Herr Lucchesi, Ihre Dokumentation «A Black Jesus», die von Wim Wenders produziert ist, spielt in einer Kleinstadt in Sizilien am Rande Europas. Die Bewohner sind tiefreligiös, sie verehren seit Jahrhunderten eine schwarze Jesusfigur. Mit den schwarzen Geflüchteten im Ort wollen sie aber nichts zu tun haben. Das klingt paradox.
Lucchesi: Das geht in Siculiana nicht so ganz zusammen. Aber dieser Widerspruch kommt überall vor, wenn Religiosität eher durch Feste und Geselligkeit geprägt ist als durch Werte. Von diesem «Paradox» handelt der Film.
Was hat Sie an der Geschichte berührt, Herr Wenders?
Wenders: Lucas Vater kommt aus diesem Städtchen an der südlichen Mittelmeerküste. Luca kennt den Ort gut. Ich war nur zweimal da, aber Siculiana hat mich berührt, weil es in vielerlei Hinsicht den Kontakt zur Welt verloren zu haben schien, wie viele Kleinstädte im Süden: Auch hier waren von drei Häusern zwei verlassen. Aber das Städtchen hat noch einen alten Glanz, gerade im Zentrum mit seiner grossen barocken Kirche …
Lucchesi: Du kannst dich sicher erinnern, Wim, als wir diese Kirche einmal besucht haben. Wir waren allein, dachten wir, aber am Knie des schwarzen Jesus knieten ein paar afrikanische Migranten. Sie waren tief im Gebet versunken. Dieses Bild hat mich durch den ganzen Film getragen.
Wenders: Ich erinnere mich gut. Die jungen Männer hatten etwas Geisterhaftes. Als wollten sie nicht gesehen werden von den Einheimischen. Als ob sie gerade an einer Welt teilnähmen, die für sie off limits war: der Innenraum der Kirche, das Kruzifix.
Wie hat der Austausch zwischen Bewohnern und Geflüchteten zu Drehbeginn ausgesehen?
Lucchesi: Es gab keinen Austausch. Es waren zwei Welten, die nichts miteinander zu tun hatten. Das Flüchtlingszentrum liegt in einem ehemaligen Hotel, der Villa Sikania, wo früher auch Hochzeiten und Taufen stattgefunden haben. Für die Leute von Siculiana war es immer ein Ort, an dem man gefeiert hat. Aber seit das Hotel zum Flüchtlingszentrum wurde, meiden sie ihn.
Wie haben die Bewohner reagiert, als Sie sagten, dass Sie auch dort drehen wollen?
Lucchesi: Die Reaktionen waren zum Teil krass. Aber die Siculianesi waren natürlich auch neugierig. «Wir wissen, Luca, dass du da drehst. Kannst du uns berichten, wie es dort ist?» Die zwei Seelen des Dorfes, sie kannten einander nicht.
Wie hat Ihre Zusammenarbeit mit Herrn Wenders ausgesehen?
Lucchesi: Ich bin eher aktivistisch veranlagt, also wollte ich zu Beginn unbedingt die politischen Probleme Italiens miterzählen und das Scheitern der rechten italienischen Regierung mit ihrer Flüchtlingspolitik. Aber Wim meinte: Ja, das ist auch wichtig, aber in ein paar Jahren weiss niemand mehr, wer Matteo Salvini war. Lass besser die ganze aktuelle Politik raus. Das hat dem Film viel Kraft gegeben. Ich war freier, mich mehr um die Geschichte dieser Menschen zu kümmern und um Konflikte, die es vermutlich auch noch in hundert Jahren geben wird.
Wenders: Die Symbolkraft dieser kleinen Stadt lag eben nicht in der Tagespolitik, die den Film nur kleiner machte. Das Bild von den schwarzen Geflüchteten unter dem schwarzen Jesus war stärker als irgendwelche Politikerfiguren.
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