Ein Gehilfe der Wahrheit, ein Cooperator veritatis, wollte Joseph Ratzinger sein. So stand es als Motto auf seinem erzbischöflichen Wappen und so stand es später auf seinem Wappen als Kardinal. Ratzinger verkündete die Wahrheiten der Schöpfung und die Wahrheiten der Kirche, so wie er sie verstand. Er, der fast ein Vierteljahrhundert Präfekt der Glaubenskongregation in Rom war, glaubte die Wahrheit besser zu kennen und härter verteidigen zu müssen als irgendwer sonst. Er hatte sie studiert, er hatte sie gelehrt, der einstige Theologieprofessor. Ratzingers Wahrheiten waren Zumutungen und sollten es sein. Gleichwohl trug er sie mit Vehemenz und Entschiedenheit vor. Genau das, die Form, die Eleganz, habe ich immer an ihm bewundert, auch wenn er mich letzlich von diesen Wahrheiten nicht überzeugt hat. Wer sich der Absolutheit des katholischen Weltverständnisses nicht beugen wollte, den schalt der Verteidiger des Glaubens einen Relativisten. Ein Relativist, das war jemand, der in Zweifel zog, dass man sein Leben an den Dogmen und Gesetzen ausrichten musste, die der Katholizismus lehrt. Damit sabotierte der Relativist angeblich das Wesen der Religion und der Kirche. Ein Relativist, das war und ist für Joseph Ratzinger ein Gegner der Wahrheit, ein Leugner des gekreuzigten und auferstandenen Christus.
Eine Jahrhundertbegabung
Es ist tragisch, komisch und grausam zugleich, dass Benedikt nun selbst zum Relativisten geworden ist. Er leugnet, was nicht mehr zu leugnen ist : dass auch er als Erzbischof von München und Freising in den siebziger und achtziger Jahren Fehler gemacht hat im Umgang mit Missbrauchsfällen. Dass er wie alle Kirchenmänner damals mehr auf Seiten der Täter als auf Seiten der Opfer stand und das Leid nicht sehen wollte, das im Namen seiner Kirche verursacht wurde, ja, das er selbst als Erzbischof hätte verhindern können, kurz : dass er blind war. Das jüngst vorgestellte Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, das im Auftrag des Münchner Erzbistums angefertigt worden ist, belegt genau diese Schwäche eindrücklich. Und sie ist auch, wie die Fälle sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Verantwortungsbereich, kein Phänomen der Vergangenheit. Sie spiegelt sich in der Weigerung des Papa emeritus, sich die Blindheit von gestern einzugestehen.
Dreimal behauptet Ratzinger in seiner Stellungnahme im Gutachten, bei einer Ordinariatssitzung nicht dabei gewesen zu sein, obwohl er bewiesenermassen anwesend war. Und auch wenn er die dreifache Leugnung mittlerweile relativiert hat und von Fehlern bei der redaktionellen Bearbeitung spricht (« nicht aus böser Absicht »), bleibt doch der Eindruck : Der Verteidiger des Glaubens gibt nur zu, was er muss. Der Rest wird abgestritten, bevor der Hahn kräht.
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