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Autorin: Christina Rietz
Dienstag, 16. November 2021

Martin Rees wird von zwei sehr hellen Lichtquellen überstrahlt. Eine Stehlampe in seinem Wohnzimmer blendet die Kamera seines Laptops, und von draussen kommend bricht die Sonne durchs Fenster. Es muss ein herrlicher Herbstmittag in Cambridge sein. Martin Rees wohnt in einem alten Bauernhaus in der Nähe der Stadt. Wegen der Lichtquellenproblematik sieht man ihn während des Video-Gesprächs kaum mal scharf. Wenn doch, erblickt man einen lächelnden älteren Herrn. Martin Rees ist Astronom, vor allem sorgt er sich um die Zukunft des Planeten, auf dem er lebt. Am Ende des Gesprächs überschlägt Martin Rees im Kopf kurz, wie viele Wörter wir in etwa gesprochen haben könnten. Er schätzt: 6000 Wörter. Die ungekürzte Abschrift unseres Gesprächs betrug: 5700 Wörter.

Lord Rees, was sehen Sie, wenn Sie hinauf in den Nachthimmel blicken?

Ich sehe das Himmelsgewölbe. Jeder Mensch hat dieses Gewölbe betrachtet. Aber heute verstehen wir den Nachthimmel anders als unsere Vorväter. Wir wissen viel mehr darüber, wie Sterne funktionieren.

Fühlen Sie sich unseren Vorfahren verbunden, wenn Sie die Sterne ansehen?

Alle Kulturen haben die Sterne interpretiert, alle Zivilisationen. Nur jeweils anders. Kein anderer Teil unserer Welt ist so universell wie der Sternenhimmel.

Was würde umgekehrt ein intelligenter Ausserirdischer sehen, wenn er zu uns auf die Erde blickte?

Nun, der könnte beobachten, dass wir eine immense Vegetation haben, eine komplexe Biosphäre. Er würde aber auch wahrnehmen, dass es hier eine Spezies gibt, die die Natur drastisch verändert hat. Hätte er ein Radioteleskop, könnte er sehen, dass wir enorm viele Radiowellen aussenden – und das kann nur ein Planet mit Technologie.

Sie sind einer der berühmten lebenden Astronomen. Haben Sie sich schon als Junge von den Sternen angezogen gefühlt? 

Als Junge war ich sehr an Zahlen interessiert, aber nicht besonders an Astronomie, oder zumindest nicht mehr als an Regenwürmern. Grössen und Höhen fand ich faszinierend, Maschinen und Naturphänomene. Einmal bin ich mit meinen Eltern, die beide Lehrer waren, am Meer in Urlaub gewesen. Die Gezeiten haben mich fasziniert. Warum ist nicht überall auf der Erde zur gleichen Zeit Hochwasser? Das hat mich verwirrt, und ich wollte wissen, warum das alles so war.

Wann haben Sie das erste Mal durch ein Teleskop gesehen?

Als Junge, es war kein sehr leistungsfähiges Teleskop, aber ich konnte die Krater auf dem Mond sehen. Viel später schaute ich durch ein ernstzunehmendes Instrument.

Wie arbeitet ein Astronom? Sitzt er vor einem Teleskop oder vor einem Computer?

Zunächst einmal sollten Sie «er» oder «sie» sagen. Wir haben viele Frauen in der Astronomie. Manche von uns rechnen, andere sitzen vor den Teleskopen in Chile oder Hawaii. Und wieder andere versuchen, die Daten, welche die Teleskope ausspucken, zu interpretieren. Ich falle in diese Kategorie. Ich bin ein bisschen beides: Beobachter und Theoretiker.

Im Gegensatz zu den anderen Naturwissenschaften können Sie in der Astronomie rein gar nicht experimentieren.

Im Weltall nicht, am Computer schon. Mittlerweile können wir simulieren, was passiert, wenn zwei Galaxien ineinanderrauschen.

Im Jahr 1995, Sie waren Professor in Cambridge, er­nannte Sie die Queen zu ihrem « Astronomer Royal », zum königlichen Astronomen, das ist eine sehr alte und prestigeträchtige Position. Hat Sie damals jemand vom Palast angerufen?

Ich muss sagen, dass dieser Titel ein wenig anachronistisch ist. Früher hatte ihn derjenige inne, der die Sternwarte in Greenwich leitete. Die ist aber heute ein Museum, weil es nicht so sinnvoll ist, von London aus in den Himmel zu gucken. Und so geht der Titel immer an einen führenden Astronomen. Und das bin eben ich.

Der Titel zwingt Sie nicht dazu, mit Mitgliedern der königlichen Familie Konversation über den Kosmos zu machen?

Nein, und die Queen hat mich auch noch nie nach einem Horoskop gefragt.

Sie waren Präsident der Royal Society, der englischen Akademie der Wissenschaften. Sie betreiben Ihre Wissenschaft seit langer Zeit in der Öffentlichkeit. Sie sind zum gefragten Erklärer des Weltalls geworden. Hatten Sie sich Ihr Forscherleben ruhiger vorgestellt?

Niemals habe ich ein ruhiges Leben gewollt. Ich wollte das Maximum. Wir Astronomen haben einen Vorteil: Unser Sujet zieht Menschen aus der ganzen Welt an. Wie furchtbar wäre es, irgendetwas zu erforschen, das niemanden interessiert.

Wie erklären Sie den Urknall jemandem, der absolut keine Ahnung von Naturwissenschaften hat?

Ich würde ihm sagen, dass unser Universum sich immerzu ausbreitet. Alles driftet voneinander weg, das wissen wir. Deshalb ist es logisch, dass zu Beginn alles extrem nah beieinandergelegen haben muss. Es kann ganz am Anfang keine Galaxien und keine Sterne gegeben haben. Kurz vor dem Urknall war alle Materie in ein heisses, dichtes Gas gepresst. Aus diesem Gas bestand das Universum in seiner ersten Sekunde.

Dann ist alles auseinandergeflogen?

Die Materie kühlte ab und breitete sich aus. Der Urknall glimmt allerdings bis heute nach – wir können mittlerweile Mikrowellen messen, die ein Überbleibsel des heissen, dichten Anfangs sind.

Wie kam es zum Urknall?

Das wissen wir nicht. Je weiter wir zurückgehen mit unseren Berechnungen, desto heisser und dichter wird das Gas; die Bedingungen werden da drin so extrem, dass wir die Physik, die ihnen zugrunde liegt, nicht kennen. Ab einer Nanosekunde nach dem Urknall können Sie meinen Erkenntnissen aber absolut vertrauen. Über alles, was davor war, spekulieren wir. Die Elementarteilchen müssen mit einer unglaublichen Energie aufgeladen gewesen sein.

Es klingelt.

Entschuldigung, ich muss mal die Tür aufmachen.

Ein paar Sekunden später.  

Das war Amazon. Wo waren wir?

In der ersten Nanosekunde nach dem Urknall.

Um die kurze Zeit davor zu verstehen, brauchen wir eine Theo­rie, die die grosse, sichtbare Welt und die kleine Welt von Einstein verbindet. Und die haben wir nicht. Brauchen wir als Astronomen eigentlich auch nicht.

Warum nicht? 

Wenn man sich als Astronom mit dem Orbit eines Planeten beschäftigt, braucht man dafür keine Relativitätstheorie oder Quantentheorie. Aber kurz nach dem Urknall war alles so eng, dass eine einzige Fluktuation im Vakuum das ganze Universum durchschütteln konnte. Da kommen wir eben zur Quanten­theorie, und die ist sehr kontraintuitiv. Aber immerhin können wir von heute aus 13,8 Milliarden Jahre zurückrechnen. Das ist doch was.

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