Alle wollen weg, so scheint es an diesem Morgen. Reisende drängeln sich vor den Check-in-Schaltern, Kinder quengeln und werden von ihren Eltern zurechtgewiesen. Auf der Anzeigetafel leuchten die Ziele: Phuket, Male, Palma und auch Teneriffa. Sehnsuchtsorte von sonnenhungrigen Touristen. Die Sommerferien haben begonnen, der Flughafen Zürich platzt aus allen Nähten, als hätte nie eine Klimadiskussion stattgefunden.
Auch ich werde heute abheben. Ich fliege nach Westafrika, nach Senegals Hauptstadt Dakar, und begleite den Fotografen Christian Bobst. Er reist seit zwölf Jahren regelmässig an einen kleinen Strand am westlichsten Punkt Afrikas, um die Veränderungen zu dokumentieren. Christian hat mir Bilder von Dörfern gezeigt, die langsam im Meer verschwinden, sowie von Menschen, deren Existenz förmlich in den Fluten versinkt. Es sind Bilder, die beweisen, dass schon jetzt Hunderttausende von den Folgen des Klimawandels betroffen sind.
Jedes Jahr frisst der Atlantik unglaubliche zwei Meter der afrikanischen Küste auf. Diese Zahl hat mich genauso schockiert, wie mich Christians Bilder berührt haben. Als Journalist sehe ich mich in der Pflicht, über solche Dinge zu berichten. Darum stehe auch ich heute hier am Flughafen. Was den CO2-Ausstoss angeht, bin ich keinen Deut besser als die anderen Touristen, daran ändert auch die CO2-Kompensation nichts, die ich für den Flug bezahlt habe.
Doch steige ich mit der Hoffnung ins Flugzeug, dass unsere Arbeit dazu beitragen wird, eine Erkenntnis mit anderen zu teilen: Der Klimawandel ist auch ungerecht – er trifft ausgerechnet jene am stärksten, die den Fluten und der Hitze nicht ausweichen können.
Schmelztiegel aus Leid und Sehnsucht
Dakar, 24 Stunden später: Die Rufe des Muezzins hallen durch die Gassen, ein Geruch aus Fisch und Salz streicht durch die Lücke in der Häuserfront, durch die ich einen Blick zum Meer erhasche. Ngor heisst das einstige Fischerdorf, das längst Teil der wuchernden Millionenmetropole Dakar ist.
Einst traf sich hier am Strand die High Society Westafrikas. Durch die Lobby des Méridien-Hotels, das den Namen und den Glamour der 1960er- und 1970er-Jahre längst verloren hat, musste damals ein Hauch von Jetset geweht haben. Crews der Swissair und der Sabena gingen ein und aus.
Schon nach wenigen Minuten in Ngor wird mir klar, dass dieser kleine Punkt auf der Weltkarte ein Schmelztiegel von Sehnsüchten und Leid, von Schönheit und Hässlichkeit, von Liebe und Hass ist. Am West-Zipfel des afrikanischen Kontinents haben seit Jahrhunderten Geschichten begonnen und auch geendet.
Heilmittel und Zerstörungswut
Von der Aufbruchstimmung in Ngor ist heute nicht mehr viel übrig. Was bleibt, ist die Sehnsucht auszubrechen, erzählt mir Free Kiss. Niemand nennt den 72-jährigen Senegalesen bei seinem richtigen Namen, auch mein Begleiter Christian nicht. Er kennt Free Kiss schon lange. Die Liebe zur Fotografie verbindet die beiden. Wenn Christian nicht da ist, fotografiert der Mann mit seiner abgewetzten und an den Ecken verbeulten Canon-Kamera die letzten Überbleibsel der High Society, die es in Ngor noch gibt.
«Jeden Morgen kommen Minister und hohe Regierungsvertreter hierher zum Aquafit», erzählt er in seinem Französisch mit dem typisch senegalesischen Akzent. Das Meer habe eine heilende Wirkung, sagt man. Manchmal könnten Lahme plötzlich wieder gehen, behauptet Free Kiss. Das Meer als Heilsbringer. Auch diese Seite hat es.
Doch viel grösser ist seine Zerstörungswut, wie ich bald mit eigenen Augen sehen werde. Das weiss auch Free Kiss, der Kinder hat und dagegen ist, dass junge Leute auf Boote steigen und ihr Glück in Europa suchen. Täglich schaut er die News auf TFM. Der grösste Sender Senegals berichtet regelmässig über versunkene Boote und Dutzende vermisste Flüchtlinge.
Allein in diesem Jahr sollen je nach Quelle bis zu 5000 Menschen die Reise von Westafrika zu den Kanarischen Inseln nicht geschafft haben, so viele wie noch nie. Als wir Free Kiss in seiner bescheidenen Wohnung mitten im Gassengewirr von Ngor besuchen, laufen im Hintergrund die Nachrichten. Wie immer geht es um Flüchtlinge, Vermisste und den Wunsch nach mehr globaler Gerechtigkeit.
Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Senegal gross. In den noblen Vororten Dakars geniesst eine neue Mittelschicht in ihren Villen den Reichtum. Doch drei von vier Menschen im Land müssen gemäss Weltbank mit weniger als 5 Franken pro Tag auskommen, über 40 Prozent gelten als arm. Laut den aktuellen Zahlen hat sich die Situation seit der Pandemie verschlechtert: Die Armut nimmt zu, die Aussicht auf eine Zukunft sieht gerade für junge Leute düster aus — und Senegal ist jung, sehr jung. Die Bevölkerungszahl des westafrikanischen Landes hat sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt; 40 Prozent der Senegalesinnen und Senegalesen sind unter 15 Jahre alt, nur gut die Hälfte schliesst eine Schule ab. Die Folgen der Perspektivlosigkeit: Bis im September 2024 haben sich über 31 200 Bootsflüchtlinge auf die lebensgefährliche Route von Senegal nach Teneriffa gewagt. Mehrere Tausend starben in den Fluten.
Die Gurte riecht etwas, doch sie hält mich festgezurrt auf den Rücksitz des alten Skoda, während Thiam, unser Fahrer, in einer Seelenruhe den Schlaglöchern, Motorrädern, Pferdefuhrwerken und allen anderen Gefahren von Dakars Morgenverkehr ausweicht. Die afrikanische Hitze quillt durch die offenen Fenster ins Auto. Die Klimaanlage würde zu viel Benzin verbrauchen, sagt der Fahrer entschuldigend.
Wir sind auf dem Weg nach Djiffer. Knapp 200 Kilometer liegen vor uns, eine Reise an einen Ort, den es vielleicht schon bald nicht mehr geben wird. Angeblich hat das Meer dort schon ganze Teile eines Fischerdorfes komplett zerstört. Die Menschen sollen mit blossen Händen Steine aufstapeln, weil die Regierung nichts unternimmt. Die schmale Landzunge, die das Dorf mit dem Festland verbindet, könnte bald durchbrochen werden, befürchtet man. Mit uns im Auto sitzt Mor, der seit Jahren mit Christian zusammenarbeitet und ihm hilft, wann immer er für seine Fotoreportagen logistische Unterstützung braucht.

Unterwegs, so der Plan, wollen wir einen Fischer namens Abdou Aziz treffen, den Christian für die Zeitschrift «Geo» porträtiert hatte. Diese Geschichte hat mich sehr bewegt und ist der wahre Grund dafür, warum ich heute im alten Skoda sitze.
Aziz träumt von einer Überfahrt auf die Kanaren. Sein Onkel Moustapha Kane hat die Reise vor 18 Jahren gewagt und ist als gemachter Mann zurückgekehrt. Sie wollen uns erzählen, was jemanden dazu treibt, sich für sechs bis sieben Tage auf eine kleine Piroge zu pferchen, um die gefährlichste Flüchtlingsroute der Welt zu den Kanaren zu bewältigen – nur sieben von acht Flüchtenden überleben.
Wir verlassen die letzten Ausläufer Dakars und ich staune, wie gut die Strasse plötzlich ist: eine topmoderne Autobahn. «Die haben die Saudis bezahlt, nicht die Chinesen, wie andernorts in Afrika», sagt Fahrer Thiam.
Graue Affenbrotbäume
Wir kommen gut voran, es hat wenig Verkehr. Majestätische Baobabs flitzen links und rechts an uns vorbei. Diese gigantischen Affenbrotbäume sind das Wahrzeichen Senegals; sie erinnern mich immer an zu gross gewordene Bonsais und verleiten mich fast dazu, in Ferienstimmung zu verfallen. Das afrikanische Gewusel, das eben noch geherrscht hatte, könnte man fast vergessen.
Am Horizont tauchen Stahlrohre und glitzernde Eisentürme über den Blättern der Riesenbäume auf, wie eine Fata Morgana. Es sind Förderbänder und Kamine einer riesigen Zementfabrik. Erst als wir näherkommen, merke ich, dass die Blätter der Baobabs in dieser Gegend gar nicht grün, sondern grau sind: überzogen von einer dicken Staubschicht.
Als wir die Staubbäume hinter uns lassen, wird aus der modernen Autobahn eine verstopfte Überlandstrasse. Mor ist erwacht und stellt mit Schrecken fest, dass wir schon in M’bour sind. Er hat die Abzweigung ins Fischerdorf verschlafen, wir haben unser Treffen mit dem Fischer verpasst. Zurückfahren kommt nicht in Frage, wenn wir noch bei Tageslicht in Djiffer sein wollen. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Weges hinter uns und es ist schon bald Mittag.
Ich werde nervös, sehe die Aussicht auf die Geschichte des Fischers Aziz wegen eines schlafenden Mitfahrers schwinden. Doch wenig später verfliegt meine Panik. Ich merke: Hier gibt es Tausende Geschichten, die ähnlich sind wie solche von Abdou Aziz. Tausende Schicksale, die ebenso tragisch sind. Zum Beispiel jenes von Sophie.
Unser Begleiter tätigt ein paar Anrufe und teilt uns schliesslich mit: «Ich kenne in dieser Gegend eine Frau, die ihr Haus in Djiffer verloren hat und nun aus Angst vor dem Meer hierhergezogen ist.» Also verlassen wir die Hauptverkehrsachse und holpern über Nebenstrassen zu Sophies Haus. Staub fliegt durch die offenen Fenster, während wir uns bei Gluthitze und im Schritttempo über ein sandiges Strässchen dem neuen Ziel nähern.
Immer deutlicher wird sichtbar, was es heisst, wenn man in Berichten über Senegal liest, dass der Graben zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren wieder wächst und ein grosser Teil der Bevölkerung nichts von dem Wachstum mitbekommt, das die senegalesische Wirtschaft auf dem Papier ausweist. Die Strassen sind mit Schlaglöchern übersät, es ist staubig, die Häuser wirken ärmlich und sind oft kaputt. In einem dieser Häuser lebt Sophie. Sie hat zehn Kinder und ist alleinerziehend. Als das Meer ihr Haus auffrass, habe ihr Mann seine Siebensachen gepackt und habe sie verlassen, wird sie uns erzählen.

Sophie Mbass Ndione hat zehn Kinder, die sie ohne Mann aufziehen muss. Als ihr Haus im Meer versank, verliess er die Familie.
Sophie Mbass Ndione heisst sie mit vollem Namen. «Sophie genügt», sagt die 56-Jährige knapp und versucht ein Lächeln, als sie uns hereinbittet in das hellgeflieste, leere Wohnzimmer ihres Hauses. Sie habe den unteren Stock gemietet, erzählt sie, und lebe hier mit einem Teil ihrer Kinder, der Schwiegertochter und den Grosskindern. Das Haus wirkt neu und solide gebaut, zumindest der Teil, der fertig ist. Im Obergeschoss ragen verrostete Armierungseisen aus den Mauern. Ein richtiges Dach fehlt genauso wie der Verputz.
Als einzige Dekoration ziert ein grosses Bild eines Marabuts den Raum. So nennen sich die in Westafrika verbreiteten islamischen Heiligen. Sein Name, Serigne Mbaye Sy Abdou, steht in grossen Buchstaben unter dem Konterfei. Sophie verehrt den landesweit bekannten und geachteten Führer einer islamischen Bruderschaft, der wie viele Marabuts in Senegal grossen Einfluss auf Politik und Wirtschaft hat.
Christian hatte mir im Vorfeld unserer Reise Fotos gezeigt von Marabuts, die in riesigen Prunkpalästen logieren, Luxuslimousinen fahren und im Geld ihrer treuen Gefolgschaft schwimmen. Es wäre jedoch zu einfach, alle als raffgierige Nutzniesser ihrer Anhängerschaft darzustellen. Nicht selten sind es die Marabuts und ihre Bruderschaften, die sich draussen in den Dörfern um Menschen kümmern, die von der Regierung in Dakar längst vergessen wurden.
Vor dem Haus schrubbt die Schwiegertochter in einem Becken die Wäsche der Sippe. Sophie sitzt im Schatten des halbfertigen Hauses und starrt ins Leere. Dann erzählt sie von der Nacht, die ihr Leben veränderte. «Es ging sehr schnell. Innerhalb von zwei Stunden war alles weg.» Unter Tränen beschreibt sie den Moment, als eine Flutwelle Dutzende Häuser der kleinen Fischergemeinde mitriss: «Es war, als würde ein hungriges Monster alles herunterschlucken.»
Ihr Haus war Teil einer Häuserzeile am Strand von Djiffer, wo Sophie arbeitete und mit ihren zehn Kindern lebte. Die Flutwelle raubte ihr nicht nur das Haus, sondern ihre gesamte Existenz. Auch ihren Job als Fischhändlerin musste sie aufgeben, weil ihr neues Zuhause zu weit weg ist, um täglich ans Meer zu fahren. Seither überlegt sie sich jeden Tag, wie sie die Mäuler der Familie stopfen kann.

Vielleicht wird es Djiffer, gelegen auf einer schmalen Landzunge, bald nicht mehr geben. Links unten ist die Mauer zu sehen, welche die Bevölkerung zum Schutz vor den Fluten baut.
Wir fahren weiter nach Djiffer. Sophie hat spontan beschlossen, uns zu begleiten. Sie will uns zeigen, wo ihr Haus gestanden hat, bevor es Opfer der globalen Klimaerwärmung wurde. Sie sitzt vorne neben Thiam, unserem Fahrer, wir anderen pferchen uns zu dritt auf die Rückbank. Die Landschaft verändert sich. Mangroven säumen das Ufer der Meeresausläufer, der Fahrtwind schaufelt salzige Meeresluft ins Wageninnere.
Schuften ohne Bezahlung
Sophies Atem geht schwer. Unter der sengenden Nachmittagssonne schleppen wir uns durch die riesige Freiluftfischtrocknerei von Djiffer. Der stechende Fischgestank hängt wie eine bleierne Glocke über der schmalen Landzunge. In ihrem knallgelben Wickelkleid geht Sophie zwischen Fischabfällen, Netzen und rostig grauen Wellblechverschlägen hindurch.
Muskulöse Männer klauben mit ihren zerschundenen Händen feine Plastikstücke aus den Netzen und rufen ihr zu. Man kennt sie hier. Bevor das Meer ihr Haus nahm, handelte Sophie mit frischen und getrockneten Fischen und hatte ein paar Angestellte. Bis heute ist sie mit ihren ehemaligen Mitarbeitern in Kontakt. Manchmal, wenn sie genug Geld für ein Busticket hat, fährt sie nach Djiffer, kauft Fische oder Austern ein und verkauft sie in ihrem neuen Wohnort mit kleinem Gewinn.
Gleich hinter den Abfallbergen der Fischtrocknerei erhebt sich eine acht Meter hohe und über hundert Meter lange Mauer, welche die Sicht zum Meer versperrt. Gebaut haben sie ein paar Dutzend Freiwillige, ohne dafür auch nur einen Cent der Regierung erhalten zu haben. Zwei Jahre Fronarbeit stecken darin. Auch heute arbeitet eine Handvoll junger Männer an der Schutzmauer. Sophie kennt einen und stellt uns einen jungen Mann namens Abdoullaye vor. «Das hat alles ein Marabut bezahlt», sagt er, während er Zement in eine Metallform schaufelt. Sie alle seien «Talibés», treue Gefolgsleute des Marabuts Mohammed Lamine Gueye. In ihrer Freizeit würden sie die Mauer errichten.

Abdoullaye Yakhine Babou stellt in Djiffer Zementbausteine her. Mit ihnen sollen im Schutz der Mauer neue Häuser gebaut werden.
Aus dem Zement, den Abdoullaye gerade abfüllt, entstehen Bausteine, mit denen im Schutz der Mauer wieder Häuser gebaut werden sollen, in Sicherheit vor dem Meer. Sophie hat sich auf die unterste Stufe einer Treppe gesetzt, die auf die Mauerkrone führt. «Es ist unvorstellbar für mich, wieder hier zu wohnen», sagt sie und seufzt. Sie hadert sichtlich. Es ist nicht nur die Hitze, die ihr zu schaffen macht.
«Ich habe immer noch Angst», flüstert sie. Und doch will sie die Treppe hoch. Sie will uns zeigen, wo ihr Haus gestanden hat. Das emsige Treiben der Talibés steht in krassem Gegensatz zu Sophies Langsamkeit, mit der sie sich die Treppe hocharbeitet, um sich dem Blick des weiten Meeres zu stellen.

Sophie auf der Treppe, die auf die Schutzmauer führt. Ganz nach oben traut sie sich nicht, zu sehr fürchtet sie sich heute vor dem Meer.
Auf der zweitobersten Stufe bleibt Sophie stehen. «Weiter kann ich nicht. Ich traue mich nicht.» Ganz kurz wagt sie einen Blick zum Horizont, erhebt die Hand und deutet auf zwei Pfähle, die etwa fünfzig Meter weiter draussen mitten im dunkelblauen Wasser stehen.
«Dort war mein Haus. Jetzt ist dort das Meer.» Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Während wir langsam die Treppe heruntersteigen, sagt die einstige Fischhändlerin erstaunlich gefasst: «Wir haben dem Meer viel weggenommen. Jetzt nimmt es sich zurück, was ihm gehört.»
Der Erosion zuschauen
Was in Djiffer passiert, sei typisch, sagt der senegalesische Klimawissenschaftler Alioune Badara Gueye zwei Tage nach unserem Besuch in Djffer. A-B-G, wie er sich nennt, ist noch keine dreissig und doktoriert in Dakar an der Uni in Umweltgeografie. Seit ein paar Jahren untersucht er die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und den Lebensumständen der Menschen an den Küsten Senegals. Die meisten Menschen in den Küstendörfern würden nicht verstehen, was hier gerade geschieht. «Es fehlt ihnen an Bildung, um die grossen Zusammenhänge zu erkennen.
Wir versuchen den Leuten in den Dörfern zu erklären, warum das Meer plötzlich so wild ist, warum die Fische weiter draussen sind und warum sich die Strömungen verändert haben. Wir erklären ihnen die Zusammenhänge zwischen der globalen Erwärmung, der Gletscherschmelze und dem steigenden Meeresspiegel und reden mit ihnen auch über nachhaltige Lösungsansätze.»
Die Erosion von Westafrikas Küste steht in direktem Zusammenhang mit der globalen Klimaveränderung, erklärt uns A-B-G. Vor der Küste Senegals würden Strömungen zusammenstossen, die einerseits für den gewaltigen Fischreichtum verantwortlich sind, von dem Senegals Fischereiindustrie lange profitierte. Anderseits sind es auch diese Strömungen, die buchstäblich an der Zukunft des Landes nagen.
Die Zahlen, die er uns vorrechnet, sind erdrückend: «Es gibt genaue Aufzeichnungen, die in gewissen Dörfern bis 1949 zurückreichen und zeigen, dass zum Teil über 150 Meter Land verlorengingen.» Das sind durchschnittlich 2 Meter Land pro Jahr, die sich das Meer zurückholt. Was ebenfalls bewiesen ist: «Die Geschwindigkeit nimmt zu, auch die Stärke, mit der die Flutwellen während der Regenzeit auf die Küste treffen», sagt der Wissenschaftler.

Im Dorf Bargny badet eine Frau ihr Kind in den Überresten ihres Hauses. Den anderen Teil hat das Meer verschluckt.
Wir treffen A-B-G in Bargny, einem Fischerdorf, etwa 30 Kilometer von Dakar entfernt, wo man der Erosion fast zuschauen kann. «Die Menschen wollen etwas tun, sie wissen aber nicht, was wirklich hilft.» Er hat Verständnis dafür, dass sich Marabuts und Talibés für ihre Gemeinden einsetzen. Wirklich nachhaltig sei es nicht. Solche Mauern würden selten lange halten. «Das kann für einige Zeit gutgehen, aber langfristig gewinnt die Natur. Lösungsansätze müssen grösser sein. Es braucht einen globalen grünen Plan, eine ganze Generation, die aufsteht und sich zusammen an einen Tisch setzt. Nur so kann man etwas erreichen.»
Ich erzähle A-B-G von Sophie, ihren zehn Kindern, die sie kaum ernähren kann und deren Zukunft durch die Klimakrise gefährdet ist. «Das hängt eng zusammen: Wir haben hier eine Klimakrise, die zu einer wirtschaftlichen und sozialen Krise führt. Aus diesem Grund wollen viele junge Leute fliehen.» Statt zu fischen, würden sie ihre Pirogen als Flüchtlingsboote benutzen, um damit die gefährliche Reise ins ferne Teneriffa zu wagen.

Bewohner von Ngor schieben ein Fischerboot ins Meer, um es dort zu verankern. Rund 80 Personen hatten damit flüchten wollen, der Versuch scheiterte aber wegen des Wetters.
Ich bin beeindruckt, mit welcher Genauigkeit und Sachlichkeit der junge Wissenschaftler die Punkte verbindet, an denen sich Regierungen weltweit gerade die Zähne ausbeissen. Es ist, als würden alle Fadenstränge, die mir in den paar Tagen in Senegal in die Hände gefallen sind, plötzlich zusammenlaufen. A-B-G erzählt von der nahen Fabrik, die den Zement für die Autobahnen liefert, die mit Geldern aus dem Mittleren Osten gebaut werden.
Von den Fischereirechten, welche die alte senegalesische Regierung der EU und den Chinesen verkauft hatte. Er erzählt von den Träumen der jungen Menschen, die nichts mehr hier hält, weil sie vor den Auswirkungen des Klimawandels fliehen wollen, und fasst zusammen: «Die Folgen des Klimawandels sind hier täglich spürbar und erlebbar, ganz direkt. Sie verändern unser Leben wirtschaftlich und sozial. Es braucht mehr Klimagerechtigkeit und endlich Taten. Worte reichen nicht mehr.»
Verzweiflung und Liebe
In Bargny lebt auch Magiette Gueye. Christian hat sie schon einmal getroffen und fotografiert. Er will nun nachsehen, wie es ihr und ihrer Familie geht. Er fotografiert sie auf einer abgebrochenen Betonplatte, gleich vor ihren Füssen fällt der Boden jäh ab. Einen Meter weiter unten züngelt das Meer.
Wir stehen in den Ruinen ihres Hauses. Das ehemalige Schlafzimmer ist zerstört; der Rest des Hauses, das sie von ihrem Vater geerbt hat, steht noch. Stolz erzählt Magiette Gueye, dass nun auch ihr zweiter Sohn auf den Kanarischen Inseln sei und dort vielleicht in ein Nachwuchs-Basketballteam aufgenommen werde.
Solche Geschichten sind es, die man in Bargny hört und hören will. Erfolgsgeschichten von Kindern, die es im fernen Europa zu etwas bringen. Es sind persönliche Rechtfertigungen von Eltern, die aus purer Verzweiflung die 450 Franken zusammenkratzen, um ihren Kindern eine Überfahrt über den Atlantik ins 1500 Kilometer entfernte Teneriffa zu ermöglichen. Und dann sagt Magiette den Satz, der noch Tage später nachhallt: «Wenn du mich fragst, wie man als Mutter seine eigenen Kinder da rausschicken kann, kann ich dir nur sagen: aus Liebe.»

Magiette Gueye und ihr jüngster Sohn stehen in den Überresten ihres Hauses.
Magiettes dritter Sohn steht neben uns und spielt mit seinem Mobiltelefon. Er ist 16 Jahre alt. Auch er will hinaus aufs Meer. Er hat auf Instagram die Bilder gesehen, die alle Jungen kennen. Bilder von Brüdern oder Bekannten, die in Europa vor schönen Autos posieren, die ihnen meist gar nicht gehören. Es sind Bilder von jungen Menschen aus Afrika in Europa. Was man auf den Fotos nicht sieht, ist die Einsamkeit, die Verzweiflung, der Druck, Geld nach Hause schicken zu können, die Wut, in Europa einen Hilfsjob machen zu müssen, und das Heimweh nach der Familie.
Die Gedanken rotieren in meinem Kopf, als ich kurz darauf im Flugzeug sitze. Der Flieger zieht eine Schlaufe Richtung Norden. Durchs Fenster sehe ich die Lichter von Dakar. Ich denke an meine Kinder, die, weil es der Zufall so wollte, nicht in Afrika, sondern in Europa heranwachsen und die ich nie auf ein Boot schicken muss, auch nicht aus Liebe.



