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Autor: Tom Kroll
Mittwoch, 20. April 2022

Herr Maidukov, Sie sind in Kiew. Wie ist derzeit die Lage bei Ihnen?

Es ist etwas Ruhe eingekehrt. Die Front hat sich einige Kilometer nach Norden verlagert. Dieser Tage höre ich nur noch vereinzelt Explosionen.

Was hörten Sie in den vergangenen Wochen?

Ich vernahm ununterbrochen das dumpfe Grollen vom Aufschlag der Artilleriegeschosse, dazwischen Salven schwerer Maschinengewehre vom Stadtrand, immerzu die helleren Schüsse der Sturmgewehre. Ich kann mittlerweile unterscheiden, welcher Schuss von welcher Waffe stammt. Hinzu kamen die heulenden Sirenen, die uns vor Bomben aus der Luft warnten.

Mit der neuen Ruhe sind die schrecklichen Bilder aus Butscha gekommen, Zivilisten mit zusammengebundenen Händen, mutmasslich von russischen Soldaten hingerichtet.

Die Meldungen von ermordeten Zivilisten erreichten mich einige Tage nach Abzug der Russen. Ich konnte es kaum glauben – Butscha liegt nur eine kurze Autofahrt von meiner Wohnung entfernt. Als ich die Fotos, die dann um die Welt gingen, zum ersten Mal betrachtete, liefen mir die Tränen hinunter. Sie liefen und liefen. Eine Frage stelle ich mir seitdem : Wer tötet Menschen, die unbewaffnet sind ? Männer, Frauen, Kinder. Welche Kreaturen begehen solche Taten ?

Was hat das in Ihnen ausgelöst?

Gefühle, die ich nie vorher hatte. Ich habe eine liberale Sicht auf die Welt, bin weit davon entfernt, ein Nationalist zu sein. Ich dachte immer : Kein Volk ist besser als ein anderes. Um ehrlich zu sein, meine Weltsicht wird durch den Krieg erschüttert.

Haben Sie darüber nachgedacht, selbst zur Waffe zu greifen?

Mehr als einmal. Kurz vor dem Überfall auf unser Land habe ich eine Art Ausbildung begonnen. Am ersten Tag des achtstündigen Drills lernte ich eine Kalaschnikow auseinanderzubauen und zusammenzusetzen. Danach folgte stundenlanges Üben, wie ich mich bei Feindkontakt auf den Boden zu werfen habe und meine Waffe in Anschlag bringe.

Maidukov war mit dem Auto unterwegs, als sich ganz in der Nähe eine Explosion ereignete. In dem Bild sind entscheidende Details verfremdet – um der russischen Armee keine Informationen zukommen zu lassen

Gewehre, Uniformen, Barrikaden – Sergiy Maidukov zeichnet den Kriegsalltag.

Gekämpft haben Sie aber nicht?

Die Ausbildung wurde mit Beginn des Krieges beendet. Ein Freund und ich wollten uns dennoch den Verteidigungsstreitkräften anschliessen. Wir riefen auf ein Telefon an, das nicht besetzt war, wir versuchten uns über eine Website anzumelden, die überlastet war, und wir zogen an der Tür der Rekrutierungsstelle, die verschlossen war.

Was war los?

Wir hörten, dass sich genug Freiwillige mit Erfahrung gemeldet hätten, zudem seien die Waffen knapp. Wer noch nie geschossen hatte, sollte zurückstehen, man sei eine zu grosse Gefahr für die eigenen Soldaten. Statt zu kämpfen, sammele ich jetzt Geld für mein Land. Ich werde auch das Honorar für die hier gedruckten Bilder spenden. Ich will nicht vom Krieg profitieren.

Was macht ein Illustrator, wenn in seinem Land Krieg herrscht?

Das ist einfach. Zeichnen ! Der Stift ist mein Gewehr.

Was zeichnen Sie?

In den Tagen kurz nach dem Einmarsch hielt ich fest, was ich auf den Strassen sah. Das Flakfeuer in der Dunkelheit, die Befestigungsanlagen am Schwimmbad, in das ich immer gehe. Ich zeichnete all das, was sich vom Alltag im Frieden unterscheidet. Heute darf ich das nicht mehr. Die Sicherheitsbehörden wollen verhindern, dass der Feind durch Bilder Informationen aus der Stadt erhält, Informationen über mögliche Angriffsziele. Fotografieren ist Journalistinnen und Journalisten vorbehalten.

Was würde geschehen, wenn Sie dennoch mit dem iPad in die Innenstadt gingen, um dort zu zeichnen?

Ich würde festgenommen. Erst neulich lief ich die Strasse entlang und hob ungeschickt mein Handy in die Höhe.

« Kurz nach dem Beginn des Krieges zeichnete ich, was ich auf den Strassen sah. Das Flakfeuer in der Dunkelheit, die Befestigungsanlagen am Schwimmbad. Ich zeichnete all das, was sich vom Alltag im Frieden unterscheidet. »

Es muss so ausgesehen haben, als ob ich fotografiere. Ein Pick-Up-Truck, auf dessen Ladefläche Soldaten sassen, fuhr dann im Schritttempo an mir vorüber. Die Augen der Männer waren auf mich gerichtet. Sie kontrollierten mich dann aber doch nicht. Ich sah wohl nicht so aus, wie sie sich einen Spion vorstellten. In der Stadt herrscht eine grosse Angst vor Saboteuren.

Auf Ihrem Instagram-Kanal und in der «ZEIT» veröffentlichten Sie dennoch Szenen aus der Stadt. Umgehen Sie das Verbot?

Nein. Ich zeichne nach meiner Erinnerung. Im Anschluss verfremde ich Details, damit ich die neuen Vorschriften einhalte.

Sie müssen sich selbst zensieren?

In gewisser Weise – ja. Aber das ist immer noch besser, als nur Symbole anzufertigen. Ein Rapsfeld mit blauem Himmel, die ukrainische Flagge, heroisch anmutende Soldaten – all diese Bilder sind gemalt worden. Es entsteht nichts Neues. Ich will wieder näher an die Realität kommen.

Und so behelfen Sie sich mit einem Trick.

Korrekt.

« Wenn meine Tochter als erwachsene Frau auf diese Zeit zurückblickt, wünsche ich mir, dass sie sich an eine etwas seltsame Reise nach Frankreich erinnert, eine Reise ohne ihren Vater. »

Auf einem Ihrer Bilder ist ein kleines Mädchen zu sehen, das allein in einem Bett liegt. Die Bettseite rechts von ihr ist verwaist. Wer ist das — und wer ist gerade aufgestanden?

Das Bild zeigt meine Tochter am 24. Februar, am Tag des Angriffs. Ich war von den Explosionen in der Ferne aufgewacht. Meine Tochter schlief noch. Das Bild zeigt den Moment, kurz bevor ich sie aufweckte. Es war schmerzlich, ich wusste, für sie wird sich von jetzt auf gleich alles verändern.

Ihre Tochter musste fliehen?

Ja, gleich am Morgen brach sie mit ihrer Mutter auf.

Können Sie von Ihrem Abschied berichten?

Es war ein schrecklicher Abschied. Sie fuhren mit dem Auto nach Lwiw, und auf der Strasse spielten sich chaotische Szenen ab. Der Verkehr staute sich, es wurde gehupt, meine Mutter, die ebenfalls mitgefahren ist, weinte. Alles musste hastig gehen. Dann erinnere ich mich an einen Dummkopf, der über die sechsspurige verstopfte Strasse lief. Er rannte zwischen den Autos umher und schrie panisch : « Mein Gott ! Mein Gott ! Krieg ! Krieg ! »

Sie blieben zurück.

Ja, weil ich Widerstand leisten wollte.

Wie war der Moment des Abschieds?

Ich wollte, dass sie schnell losfahren. Wir haben uns alle kurz und fest umarmt. Dann fuhren sie schon ab. Ich sah dem Auto hinterher. Als ich zurück in der Wohnung war, begriff ich die Tragweite unserer Entscheidung. Ich hob ein Spielzeug meiner Tochter vom Boden auf und betrachtete es, dann musste ich mich hinsetzen und begann zu weinen. Zwei Wochen lang hatte ich das Gefühl, in meinem Herzen sei etwas kaputtgegangen. Ein tiefes schwarzes Loch hatte sich dort eingebrannt, wegen dieses unwürdigen Moments.

Und dann?

Am 15. März fuhr ich zu ihnen, um mich noch einmal richtig zu verabschieden. Es war, kurz bevor meine Familie nach Frankreich weiterreiste. In Lwiw hielten wir uns an der Hand, wir umarmten uns ständig, ich ging mit meiner Tochter Pfannkuchen essen, es gab sehr viel Eiscrème für sie. Dann schliefen wir in einem kleinen Bett. Ich erinnere mich, wie ich sie schlafend im Arm hielt und glücklich beobachtete. Am Morgen verabschiedeten wir uns in Ruhe. Ich vermisse sie sehr, klar, aber das schwarze Loch in meinem Herzen ist gestopft. Sie hat eine gute Erinnerung von unserem vorerst letzten Moment.

Was kommen Ihnen für Bilder in den Sinn, wenn Sie an die Zukunft Ihrer Tochter in einem fremden Land denken?

Ich sehe den Atlantik ! Sie lebt nun ganz in der Nähe des Meeres. In Frankreich wird sie eine französische Schule besuchen, Fahrrad fahren, neue Freunde finden. In fernerer Zukunft sehe ich sie als erwachsene Frau, die durch die Flucht keine seelischen Narben davongetragen haben wird. Wenn sie auf diese Zeit zu rückblickt, wünsche ich mir, dass sie die letzten Wochen und die kommenden Monate als eine etwas seltsame Reise erinnert, eine Reise ohne ihren Vater.

Maidukovs Tochter am Morgen des russischen Angriffs. Kurz darauf flüchtete die Familie des Illustrators nach Lwiw.

Sie mussten zurück in die Stadt, in der Krieg herrschte. Das zweite Bild stammt von der Heimreise nach Kiew.

Ja, die Illustration zeigt eine Szene, als ich mich mit dem Auto kurz vor der Stadt befand. Plötzlich leuchtete ein riesiger Feuerball über dem Wald auf, an dem die Strasse entlangführt. Wissen Sie, wir fuhren mit einem neuen Auto, einem BMW mit einer guten Isolierung und hohem Gewicht. Fünf Sekunden nach dem Feuerball begann der schwere Wagen zu schaukeln. Durch die Karosserie spürte ich eine Art Druck, der in meiner Brust pochte. Dann sah ich erneut einen Lichtblitz am Himmel. Erst war da ein lautes « Bum ». Und dann zwei kurze : « Bum-Bum. » Am nächsten Checkpoint liess ich das Fenster herunter und fragte einen Soldaten, was ich soeben gesehen hatte. « Eine Boden-Luft-Rakete », antwortete er, sie habe ihr Ziel getroffen. Wir hätten wohl die Detonation gespürt.

Warum sind die Ortsnamen auf dem Schild durchgestrichen?

Das ist ein cleverer Schachzug unserer Streitkräfte. Wir wollen dem Feind nicht helfen, sich in unserem Land zurechtzufinden. Darauf muss ich an dieser Stelle hinweisen. Auch das Bild enthält kleine, aber wichtige Veränderungen, die den gezeigten Ort verschleiern.

Was für Bilder werden Sie in der Zukunft von Ihrem Land zeichnen?

Ich weiss, worauf die Frage anspielt. Die Ukraine wird ihre Unabhängigkeit bewahren, ihren Staat, ihre Kultur. Die Ukraine wird Ukraine bleiben, da bin ich mir sicher. Ich befürchte, wir werden Gebiete im Südosten verlieren. Das wird wahrscheinlich der Preis sein, den wir zahlen müssen, wenn wir ein prosperierendes Land werden wollen. Aber um Ihre Frage zu beantworten : Ich werde Bilder von einem freien Land zeichnen.

Tom Kroll ist freier Journalist in Hamburg. Bis vor kurzem war er Redaktor bei bref.

Sergiy Maidukov ist Illustrator und lebt in Kiew.