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Autorin: Susann Sitzler
Freitag, 02. März 2018

Wie aus dem Nichts breitete sich zu Beginn der achtziger Jahre rasend schnell eine neue Krankheit aus. Steckten sich anfangs vorwiegend homosexuelle Männer mit dem Virus an, zeigte sich schon bald, dass es alle erwischen konnte: Männer, Frauen und durch eine Infektion der Mutter auch Kinder.

Ein Wettlauf gegen die Zeit begann: Wie funktionierte das HI-Virus, das die Immunschwäche Aids auslöst? Während sich die Medizin fieberhaft daranmachte, Ursachen zu erforschen und Therapien zu entwickeln, lancierte das Bundesamt für Gesundheit 1987 in Zusammenarbeit mit der Aids-Hilfe Schweiz seine erste Präventionskampagne. Sie bestand aus zwei Wörtern: Stop Aids, wobei das o ein rosarotes, unausgerolltes Kondom zeigte.

Die Kirchen schufen ökumenische Aidspfarrämter mit dem Ziel, sich um die spirituelle Begleitung der Kranken zu ümmern. Der Psychologe, Theologe und Seelsorger Marek A. Dolata war elf Jahre Mitarbeiter bei der Aids-Hilfe beider Basel. In dieser Funktion pflegte er einen engen Kontakt mit dem Aidspfarramt. Wenn er über diese Zeit spricht, dann auch vom Leben als junger Mann in einem Jahrzehnt der Verunsicherung.

Herr Dolata, wann realisierten Sie, dass Aids alles verändern würde?

Das war in der WG bei einem Essen mit anderen Studenten. Wir diskutierten über diese neue, rätselhafte Krankheit, von der in den Nachrichten so viel gesprochen wurde. Dann hörten wir plötzlich von Menschen in unserem Umfeld, die erkrankt waren. Wir waren alle verunsichert. Dabei kollidierte diese Unsicherheit mit einem Lebensgefühl, das eigentlich diametral anders war.

Was für ein Gefühl war das?

In den frühen achtziger Jahren bis in die frühen neunziger Jahre hinein herrschte unter meinen Freundinnen und Freunden eine regelrechte Aufbruchstimmung. Wir dachten, wir verändern etwas, mit unserer Generation kommt etwas Neues, wir führen das weiter, was unsere Eltern, die 68er, nicht geschafft haben. Dazu zählte das Ausprobieren neuer Modelle des Miteinanderlebens, und auch das Aufbrechen von sexuellen Identitäten und Mustern.

Es brauchte Leute, die sich für die Aidsproblematik zuständig erklärten, heisst es im neu erschienenen Buch Positiv. Aids in der Schweiz. Warum fühlten Sie sich zuständig, etwas zu tun?

Wir fragten uns einfach: wer, wenn nicht wir jungen Frauen und Männer, die unser Leben und auch die Sexualität selbstbestimmt, frei und lebensbejahend gestalten wollten? Konservative Kreise behaupteten damals immer wieder, dass Aids halt eine Folge sei, wenn man zu liberal und freizügig lebe. «Die Natur rächt sich nun», hat mal jemand zu mir gesagt. Oder es war die Rede von der «Schwulenseuche». Das hat mich wütend gemacht und lehrte mich früh, Stellung zu beziehen und ideologiekritisch zu denken. Dabei half mir sicherlich auch, dass ich in einem jüdischen Elternhaus aufgewachsen war. Ich habe früh gelernt, ausgrenzende und zerstörerische Gedankengänge zu entlarven.

Aids als Strafe. Wie begegnet man solch einer Deutung?

Es war ein enormer Kampf, immer wieder deutlich zu machen, dass Aids eben nichts mit Schuld zu tun hat. Dass es nicht darum geht, von einer Strafe zu reden, von den Konsequenzen eines schändlichen, lästerlichen Tuns. Erst recht in einer Zeit, in der viele Homosexuelle das Selbstbewusstsein entwickelten, sich für ihre Sexualität nicht schuldig fühlen zu müssen. Wir lenkten die Argumentation relativ rasch auf diesen Punkt. Wir realisierten, wie gefährlich und ausgrenzend die Vermengung von Religion und sexuellen Normen ist.

Im Mai 1981 wurden in Los Angeles erstmals Symptome bemerkt, die später Aids zugeordnet wurden: unter anderem eine sehr seltene Form von Lungenentzündung. Betroffen waren Männer, die sexuelle Kontakte mit anderen Männern hatten. Darum wurde zunächst nach einer schwulenspezifischen Immunschwäche geforscht. Ende 1982 erhärtete sich der Verdacht, dass es sich beim Auslöser um ein Virus handelt. Als erstes Medium im deutschsprachigen Raum berichtete im Frühling 1983 das Nachrichtenmagazin Spiegel ausführlich über die «Schwulenpest». Zu diesem Zeitpunkt war Aids ein sicheres Todesurteil, Infizierte starben in der Regel innerhalb weniger Monate. In der Schweiz wurden damals ungefähr ein Dutzend Krankheitsfälle direkt dem neuen Virus zugeschrieben. In die Spitäler kamen immer mehr Patienten mit den typischen Symptomen – und trafen auf hilflose Fachleute.

Alle wussten, dass Aids den Tod bringt. Wie es aber zu Aids kommt, darüber herrschte Ratlosigkeit. Wie gingen Sie mit dieser Unsicherheit um?

Überall, wo wir über HIV und Aids diskutierten, also an der Hochschule, in der Studentengemeinde und in unserer WG, stellte sich immer wieder die Frage, wie wir überhaupt an verlässliche Informationen herankommen. Vieles war nebulös, es kamen ständig neue Forschungsergebnisse. Währenddessen starben viele Menschen in unseren Kreisen. Alle waren überfordert. Emotional und auch ganz praktisch: Wie schützt man sich vor HIV? Ist diese oder jene sexuelle Praktik gefährlich oder nicht? Viele von uns hatten manchmal das Gefühl, dass wir unserer Sexualität beraubt wurden. Hinzu kam die Überforderung im medizinischen Bereich. Die Leute, die erkrankt waren, wurden oft wie Aussätzige behandelt, da die Infektionswege unklar waren und die Krankheit zudem in vielen Köpfen mit ausschweifender Sexualität und Unmoral verbunden wurde.

Marek A.Dolata wurde 1963 in Wuppertal geboren, studierte in Wuppertal, Bochum, Freiburg i.B. und Basel Theologie, Psychologie und Philosophie und absolvierte in Zürich und Freiburg i.B. eine psychotherapeutische Ausbildung. Nach dem Vikariat und der Ordination in Deutschland arbeitete er elf Jahre für die Aids-Hilfe beider Basel und in dieser Zeit auch zusammen mit dem ökumenischen Aidspfarramt. Heute ist er als Psychologe, ökumenischer Seelsorger und Pfarrer in einem Palliativzentrum tätig und begleitet in seiner eigenen psychologischen Praxis Klienten und Klientinnen. In der alltäglichen Arbeit ist Dolata mit Menschen der verschiedensten Konfessionen und Prägungen in Kontakt. Dolata ist die Verbindung von Psychologie und Spiritualität wichtig, er schätzt «interreligiöse Weite», wie er es nennt. Es ist ihm ein Anliegen, Menschen zu einer eigenen, auf das konkrete Leben bezogenen Spiritualität zu verhelfen, die Widersprüche nicht verharmlost. «Aufrichtige Spiritualität ist für mich Widerstand gegen lebensfeindliche Muster jeder Art», sagt er. sus

Wie muss man sich den Arbeitsalltag von Aids-Hilfe und Aidspfarramt in Basel vorstellen?

Die Aids-Hilfe hatte eher Zugang zu den Rändern der Gesellschaft, den Ausländern und den kirchenfern lebenden Menschen. Besonders zu den Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern entwickelte sich dann ein guter Zugang, da die Aids-Hilfe eben keine christliche Moral mitlieferte. Das Aidspfarramt war eher im Umfeld der Universitäts- und der Kulturszene tätig. Gerade dort war auch ein sehr kritisches Denken gegenüber den Kirchen verbreitet. Viele waren in diesen Szenen auch von den Kirchen enttäuscht. Unser gemeinsames Ziel war, Betroffene zu erreichen und zu unterstützen. Und «Betroffene» hiess am Anfang in fast allen Fällen: Erkrankte, die sterben werden. Oder solche, die ein extremes Risiko hatten, etwa dadurch, dass sie sich prostituierten oder für Sex zahlten. Ich war regelmässig nachts in der Szene der männlichen Sexarbeiter unterwegs und habe dort Informationsmaterial verteilt, Gespräche geführt und in Krisen geholfen. Es war der Versuch, den Männern Selbstbewusstsein zu vermitteln. Dadurch konnten sie besser darauf beharren, Kondome zu benutzen und nichts gegen ihren Willen zu tun.

Wie kam die Kirche dazu, solch eine Arbeit zu leisten?

Liberale Kirchenvertreter erkannten die Not und die Bedürfnisse der Betroffenen und waren dabei, als die Aids-Hilfen und die Aidspfarrämter gegründet wurden. Die Initiative sowohl zur Gründung der Aids-Hilfe als auch zu den Aidspfarrämtern kam überwiegend aus der schwul-lesbischen Szene und ihren liberalen Unterstützerkreisen.

Ende 1985 hatten Homosexuellenverbände in der Schweiz die erste Informationsbroschüre in der Szene verteilt – zusammen mit Kondomen. Im Juni 1985 wurde, unterstützt vom Bundesamt für Gesundheit, die Aids-Hilfe Schweiz gegründet, deren Aufgabe es war, die Akteure zu vernetzen – und vor allem: alle Teile der Gesellschaft darüber aufzuklären, dass man sich mit Kondomen vor einer Ansteckung mit HIV schützen kann. 1986 verschickte das Bundesamt für Gesundheit an jeden Haushalt der Schweiz eine Informationsbroschüre, 1987 folgte dann die Präventionskampagne Stop Aids. Bereits 1984 war in den USA – unter Mitwirkung des Schweizer Virologen Jörg Schüpbach und mit Blutproben von Infizierten aus der Uniklinik Zürich – ein Test entwickelt worden, mit dem eine HIV-Infektion im Blut nachgewiesen werden konnte. In Zürich schuf die reformierte Landeskirche 1986 ein Aidspfarramt, in das vier Jahre später auch die katholische Landeskirche einstieg. In Basel-Stadt beauftragte die evangelisch-reformierte Kirche 1987 den ersten Aidspfarrer. 1991 stiegen die Reformierten Baselland ein, ab 1995 trugen auch die katholischen Landeskirchen beider Basel das ökumenische Aidspfarramt mit. Man könnte sagen, die Politik fokussierte früh und radikal auf Prävention und die Kirchen kümmerten sich um jene, denen Prävention nichts mehr nützte.

Die Aidspfarrämter waren ökumenisch, theologische Spannungen müssen da vorprogrammiert gewesen sein.

Das war tatsächlich manchmal eine Zerreissprobe. Auf der einen Seite war die Arbeit mit den Betroffenen, den Erkrankten, den Hinterbliebenen. Auf der anderen Seite, vielleicht mehr im Hintergrund, waren die Erwartungen und die Forderungen der Kirchen nach einem gewissen kirchlichen Profil der Arbeit. Wegen der rigideren Sexualmoral waren die katholischen Mitarbeitenden einem stärkeren Druck ausgesetzt. In der konkreten Arbeit spürten alle eine Spannung zwischen gelebter Realität und den kirchlichen Vorstellungen von Sexualität.

Eine Aufgabe des Aidspfarramtes bestand darin, Sterbende im Krankenhaus zu besuchen und spirituell zu begleiten.

Vor allem organisierten und leiteten wir Abdankungen und Beerdigungen. Mein Kollege Ruedi Weber, der erste Aidspfarrer in Basel, suchte nach Wegen, die Rituale offener und ehrlicher zu gestalten. Die ganze Aidsproblematik wirkt bis heute positiv nach, was die Gestaltung von Trauerritualen anbelangt.

Wie sahen diese Rituale aus?

Es herrschte eine grosse spirituelle Offenheit, ohne Tabus. Der Grund der Erkrankung und des Todes durfte ausgesprochen werden. Auch wurden die Angehörigen und Freunde einbezogen. Gerade in ihrem Schmerz waren viele von ihnen sehr kreativ und haben viele Elemente der Abschiedsfeier selbst gestaltet. Wir als «Ritualleiter» waren für den Rahmen zuständig und haben diesen moderiert. Natürlich standen wir auch hier in der Kritik.

Was wurde kritisiert?

Wir wurden von konservativen Kirchenvertretern gefragt: Ist das noch kirchlich? Ist das noch ein Gottesdienst? Und waren diese Leute überhaupt christlich? Uns schienen diese Fragen und Vorwürfe in Anbetracht des enormen Leides unwichtig.

Wie reagierten eigentlich die Kranken und Angehörigen auf Menschen der Kirche?

Es war schwierig, während eines sogenannten seelsorgerlichen Gesprächs mit christlichen Traditionen zu kommen. Es gab teilweise Situationen, in denen Betroffene sehr unter ihrer religiösen Sozialisierung litten.

Beispielsweise?

Menschen aus kirchlichen Milieus, die sich auf dem Strassenstrich prostituierten oder dort Sex kauften, kämpften oft mit ihrem schlechten Gewissen, dass sie «so etwas» machten. Die Infektion war für sie eine Art Selbstbestrafung, ganz nach dem Motto: Ich habe es nicht besser verdient.

Was antworteten Sie?

Wie auch bei der Frage, ob Aids eine Strafe Gottes sei: Ich versuchte, die Menschen aus ihrer destruktiven Denkspirale zu holen. Zu betonen, dass sie als Mensch eine unverlierbare Würde und Selbstverantwortung haben. Wichtig war es, die indirekte und unbewusste Selbstbestrafung bewusstzumachen.

Wie haben Sie es als Theologe geschafft, an diese Menschen heranzukommen?

Auch wenn ich nicht als Theologe bei der Aids-Hilfe beider Basel angestellt war: Meine Kollegen und ich haben früh erkannt, dass nicht jeder Mensch religiös ist, aber jeder spirituell. Das war damals eine der wenigen schönen Erfahrungen überhaupt – Gespräche zu führen mit Menschen, insbesondere mit Sexarbeitern, die nicht nur spirituelle, sondern tiefe mystische Einsichten äusserten. Menschen also, die teilweise am Rande der Gesellschaft leben.

Die wichtigste Auseinandersetzung mit Aids fand demnach vor allem an den Rändern der Gesellschaft statt?

Die Klientel, die auf dem männlichen Strassenstrich verkehrte und die Jungen kaufte, das waren keine Schwulen. Das waren überwiegend Männer, die sich als heterosexuell sahen. Sehr viele Verheiratete waren darunter. Männer mit Familien und ganz akzeptierten Berufen und Hobbys. Häufig waren sie Angestellte grosser Konzerne im Grossraum Basel. Und sie standen teilweise beruflich enorm unter Druck. Nein, die Kunden kamen nicht vom Rand der Gesellschaft. Das war die Mitte.

Wir waren wütend auf die theologischen Konzepte, die versucht haben, Aids zu erklären. Doch da ist nichts zu erklären. Punkt.

Wie ging die sogenannte Mitte der Gesellschaft mit Menschen wie Ihnen um, die sich in der Aidsarbeit engagierten?

Eine gängige Erfahrung bei uns allen in der Aidsarbeit war, dass uns unterstellt wurde, wir seien selbst HIV-positiv oder aidskrank. Ich habe eine chronische MS, und wenn ich mal einen Schub hatte, hiess es – auch in kirchlichen Kreisen – immer: «Ja, der ist aidskrank.»

Wir versuchten diese negativen Vorurteile miteinander zu teilen, aber letztlich waren viele oft nahe an einer Depression. Gleichzeitig entstand bei vielen auch eine grosse Wut.

Worauf?

Auf diese ethisch-moralischen und theologischen Konzepte, die versucht haben, Aids zu erklären. Doc da ist nichts zu erklären. Es gibt eine Erklärung auf der medizinisch-wissenschaftlichen Ebene, wie die Infekton zustande kommt. Aber ethisch-moralisch lässt sich das nichts erklären. Punkt.

Was ist aus Ihren Mitstreitern geworden? Irgendwie hat man das Gefühl, dass eine ganze Helfergeneration aus der Öffentlichkeit verschwunden ist.

Viele, die ich kenne, haben sich zurückgezogen, etwa ins Künstlerische oder ins Schreiben. Manche haben ihre Sozialkontakte auf ein Minimum reduziert. Einige haben sich auch vorzeitig pensionieren lassen. Sie hätten genug gesehen vom Leben, sagen sie.

Das klingt resigniert und erschöpft.

Vielleicht ist das heute schwer vorstellbar, aber wer sich jahrelang in der Aidsarbeit engagiert hat und während der Arbeit dauernd der giftigen Seite der Religion ausgesetzt war, der trägt das irgendwie mit sich weiter.

Was meinen Sie mit der giftigen Seite der Religion?

Den Versuch, Deutungen herzustellen und Erklärungen zu formulieren, die Menschen ausgrenzen und indirekt an ganz bestimmte Erwartungen binden, die dann im konkreten Leben ein Schuldgefühl auslösen. Das bindet enorm viel Lebensenergie.

1996 kamen die ersten antiretroviralen Medikamente auf den Markt. In einer Kombinationstherapie kann mit ihnen der Ausbruch von Aids bei HIV-Infizierten verhindert werden. Ihre Lebenserwartung ist dadurch nicht mehr massgeblich verringert. Zwischen 13 000 und 20 000 Infizierte leben heute in der Schweiz. Rund 100 Neuinfektionen gibt es hier jährlich noch, viele bei Personen aus Afrika, der ehemaligen Sowjetunion und Asien, die nicht durch Präventionskampagnen informiert wurden. Flüchtlinge, die sich prostituieren, bilden eine neue Risikogruppe. Ende 2011 zog sich die reformierte Landeskirche aus dem ökumenischen Aidspfarramt Zürich zurück. In Basel ist die katholische Kirche 2012 vorzeitig aus der Finanzierung des Aidspfarramts beider Basel ausgestiegen, daraufhin hat auch die reformierte Kirche gekündigt, und das Pfarramt wurde Ende 2013 aufgelöst.

In der Zwischenzeit sind alle ökumenischen Aidspfarrämter geschlossen, und der Aidsprävention wurden die Mittel gestrichen. Wie kam es dazu?

So um die Jahrtausendwende wurde damit angefangen, die Mittel immer mehr zu kürzen. Konservative, rechtsbürgerliche und evangelikale Kreise waren nicht mehr bereit, die Aidsarbeit finanziell zu unterstützen.

Eine Lehre für die Kirchen könnte sein, dass eine vernünftige Spiritualität einen dazu befähigt, eine gewisse Sinnlosigkeit auszuhalten.

Sie sahen in ihr etwas Zerstörerisches. Einen Verrat an den Werten der Gesellschaft. Am Ende setzten sich diese Kräfte durch. Unsere Proteste wurden nicht gehört. Die sogenannten ökonomischen Aspekte und Argumente waren stärker. Auch in den Kirchen.

Ist das nicht der Lauf der Zeit? Auch die Kirchen müssen sich den aktuellen Herausforderungen stellen. Vor über dreissig Jahren war es Aids, heute sind es die Flüchtlinge.

Zu glauben, dass HIV und Aids heute kein Leid mehr produzierten, ist eine völlig falsche Einschätzung. Die Kirchen hätten sich innerhalb der Thematik weiterentwickeln müssen. Da ging auch sehr viel Know-how verloren, das sich die Kirchen zusammen mit den Aids-Hilfen in diesem Bereich aufgebaut haben. Gerade unter den Flüchtlingen ist Aids gegenwärtig ein grosses Problem, und auch in der Prostitutionsszene wird wieder weniger darüber gesprochen und informiert. Der Irrglaube, diese Krankheit sei heilbar, hat Konjunktur. In allen Bereichen der Gesellschaft.

Welche Erkenntnis sollten die Kirchen aus ihrem früheren Engagement gegen Aids ins Heute retten?

Zuerst müssen wir uns bewusst werden, dass die theologischen Traditionen, aus denen wir kommen, das Elend um HIV und Aids mitgeprägt haben.

Inwiefern?

Bis heute stehen die Kirchen für eine gewisse Vorstellung, wie man zu leben und zu lieben hat. Die kirchlichen Deutungsmuster basieren auf einer absolut falsch verstandenen jüdisch-christlichen Sexualmoral. Da werden Krankheiten bewertet oder HIV und Aids als etwas Anrüchiges angesehen. Kurz: wir kommen aus einer Verdrängungsgesellschaft. Wir grenzen aus und spalten ab.

Und was machen Sie mit dieser Erkenntnis?

In einer Gesellschaft, die nicht auf Ausgrenzung und Abspaltung basieren will, müssen sich alle Bedürfnisse artikulieren dürfen. Das gilt auch für sexuelle Bedürfnisse, damit diese nicht in einer verheimlichten und gleichzeitig überbordenden Sexualität gelebt werden müssen.

Ein Plädoyer dafür, sich besser zu spüren.

Vor einigen Tagen habe ich einen Satz von Michael Clement, einem katholischen Theologen, wiederentdeckt: «Indem der Mensch nicht wahrnimmt, was sich in ihm regt, gräbt er sich selbst das Wasser ab.» Der Satz lässt mich nicht mehr los.

Und was empfehlen Sie nun?

Wir müssen zunächst alle unsere Regungen zulassen und unseren Umgang mit ihnen nicht an theologische Konstruktionen oder an eine höhere Macht delegieren. Viele gläubige Menschen denken, wenn sie nur traditionell genug leben, dann seien sie vor Gefahren geschützt. Oder aber sie beschuldigen andere, damit etwas für sie Sinn ergibt.

Wie meinen Sie das?

Schuldkonstrukte sind immer auch Sinnkonstrukte: Schuld macht Sinn. Menschen weichen lieber auf die Schuldfrage aus, benennen einen Schuldigen oder nehmen die Schuld selbst auf sich, als zu sagen: Ich kann’s nicht erklären. In den achtziger und neunziger Jahren waren wir gezwungen, in der Theologie ganz viel Sinnlosigkeit auszuhalten. Um meine Arbeit tun zu können, brauchte ich ein Mindestmass an «Sinnlosigkeitstoleranz». Ich gehe sogar so weit: Eine Lehre für die Kirchen könnte darin bestehen, dass eine vernünftige Spiritualität einen dazu befähigt, eine gewisse Sinnlosigkeit auszuhalten. Dieser Gedanke ist schon im Buch Hiob angelegt. Wenn ich Leiden erklären will – um jeden Preis –, dann kann ich mich schuldig reden. So wie die Freunde Hiobs es in der Bibel tun.

Ist das auf Dauer nicht frustrierend?

Im Gegenteil, ich erlebe es als befreiend. Damals, als Aids ausbrach, haben wir gemerkt: unsere alten Antworten reichen nicht aus. Sehr viel Halt hat uns dabei die Spiritualität der deutschen Theologin Dorothee Sölle gegeben. Sie sagte in Anlehnung an die Mystik: «Gott hat keine anderen Hände als unsere.» Wir handelten also zuerst und dann zeigte sich der nächste Schritt.

Also keine hehren theologischen Worte, sondern Handeln. Mehr Diakonie geht nicht.

Verantwortung übernehmen! Im Umgang mit HIV und Aids zeigte sich rasch die Wirkungslosigkeit der akademischen Theologie und besonders ihre Weltferne. So hatte etwa der erste Aidspfarrer in Basel überdurchschnittlich viele Beerdigungen. Er war damals noch Assistent an der Uni und meinte, seine gesamte universitäre Ausbildung helfe ihm in der praktischen Arbeit nicht. Vielmehr komme es drauf an, empathisch zu sein, die Menschen nicht zu verurteilen und die Hinterbliebenen nicht mit Angst oder einem Gefühl von Schuld, Scham und Gottverlassenheit zurückzulassen.

Susann Sitzler ist in Basel aufgewachsen. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und schrieb u.a. für die Die Zeit, FAS und Merian. Seit 1996 lebt sie in Berlin.
Der Fotograf Kostas Maros lebt in Basel.

Constantin Seibt (Hg.): Positiv. Aids in der Schweiz. Echtzeit, Basel 2018; 144 Seiten; 32 Franken.