Es wird jetzt geklagt. Es wird geweint. Während die Sologeige die ersten paar seufzenden Takte spielt, schliessen viele Besucher der Leipziger Thomaskirche die Augen. Sie wissen, was kommt. Das emotionale Zentrum, das schlagende Herz der Matthäuspassion. Es ist die wichtigste Bitte in einem Menschenleben: Erbarme dich um meiner Zähren willen. So heisst es bei Bach. Wir würden vielleicht sagen: Hilf mir, wenn ich weine. Wenn es nicht mehr weitergeht, wenn die Verzweiflung erdrückend ist, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe, wenn ich schuldig geworden bin. Diese erlösungssehnsüchtige Lage vertont Bach in der Erbarme-dich-Arie. Der Konzertmeister des Orchesters hat sich erhoben, seine Geige muss die Zähren, die Tränen, vergiessen, von denen der Text spricht.
Die Solistin an diesem Abend ist Elvira Bill. Sie erscheint in einem schwarzen Kleid an der Brüstung der Empore, hinter sich das Orchester, den Thomanerchor und die gewaltige Sauerorgel. Sie beginnt zu singen und schaut nicht in die Noten, obwohl sie sie in der linken Hand hält. Sie fixiert mit den Augen irgendwas und gar nichts, sie wiegt sich hin und her im sanft schaukelnden Rhythmus des Stücks. Ihre rechte Hand ist leicht geöffnet, schwebt über den Noten, als wollte sie etwas oder jemanden beschwören. Bills Stimme ist dunkel, aber sehr insistierend. Es heisst ja auch nicht: «Würdest du dich bitte erbarmen?» Es heisst: «Erbarme dich!» Es ist ein Befehl.
Jedes Mal, wenn sie das Wort «Zähren» singt, öffnet der Dirigent, Thomaskantor Andreas Reize, die Arme weit, als wollte er das menschliche Drama, das in dem Begriff steckt, aufziehen, noch grösser machen. «Schaue hier, Herz und Auge / Weint vor dir bitterlich / Erbarme dich, erbarme dich.»
Und alle lächeln
Die Hirne des Publikums sind nun voll beschäftigt. Sensorische Reize rasen durch die Nerven, Hormone fluten an. Die Gefühle kommen. Neurologen könnten die Veränderungen im EEG und im MRT zeigen. Hat sie einen Zweck in der Geschichte der Menschheit? Die Musik?
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